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Tagebucheinträge Yvara Silberjäger

Der Krieg tobt und verschlingt alles. Es wird immer schlimmer und ich vermag nicht mehr einzuschätzen, ob wir am Ende noch triumphieren können. Ich sitze oft mit meinen Brüdern und Schwestern zusammen, um Meinungen zu hören, Ratschläge, Ideen. Wächter über die Zitadelle zu sein ist kein einfaches Leben in diesen Zeiten. Das Potential und die Kraft dieses uralten Konstruktes der Macht wird in diesen Zeiten auf so wenig beschränkt. 

Heilung, Regeneration, Vitalisierung… 

Ich mag es nicht mehr hören, und das sage ich, die ich mich selbst diesen Künsten gewidmet habe. Ich verstehe jeden Tag mehr, wie sich Na’ani fühlen muss. Aber die Regeln wurden aufgestellt. 

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Jemand sagte einmal zu mir, dass die Geschichte von den Siegern geschrieben wird. Aber wer ist der Sieger eines Konfliktes, eines Krieges, der den Kontinent, auf dem wir leben, auseinander reißt? Ich frage mich, ob nicht auch Mittel gerechtfertigt wären, die verpönt sind, um das Leben von vielen anderen zu retten? Den Krieg mitzuentscheiden, indem man Wege geht, die nicht gegangen werden sollen. Dazu sollte ich für mich selbst festhalten, dass die Wege des Feindes nicht gegangen werden sollten. Wir unterscheiden uns von ihnen im Grunde nicht nur durch die Ziele, sondern auch durch die Regeln, die wir uns selbst auferlegen. Die Lösung muss also dazwischen liegen und ich frage mich, ob es einen solchen Pfad gibt und wer ihn beschreiten mag. Was würde es kosten? Ehre, Ruf, das Leben? Und was müsste geschehen, damit jemand diesen Schritt gehen würde? 

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Die Lektüre der alten Meister und deren Werke der Schöpfung ist zugleich inspirierend und erschreckend. Die lebensverachtende Art ihrer Ansichten ließ sie zu immer extremeren Mitteln greifen. Gut, dass diesen Machenschaften Einhalt geboten wurden und wir lange über diese Art von Herrschern hinweg sind. Ich vermag nicht darüber nachzudenken, wie diese Welt ohne die 2.Schöpfung aussehen würde, hätte es diesen Krieg jetzt überhaupt gegeben? Ohne die Maßlosigkeit unserer Vorfahren? Mein Herz zerbricht in dem Wissen, was hätte sein können, wenn man an die Folgen gedacht hätte. 

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Meine Studien der alten Zeiten und die daraus gewonnenen Erkenntnisse bringen mich immer wieder zu einem Grundgedanken: Was ist zu viel des Guten? Wo liegt die Grenze zwischen dem schrecklich Notwendigen und dem Schrecken, der nie geschehen darf? Und wer bestimmt diese Grenze? Ist es nicht die Geschichte und die Nachfolgenden, die ein Urteil fällen, obwohl sie nicht in der Situation waren, die konkrete Entscheidung fällen zu müssen? Jeden Tag fällt es mir schwerer, die Entscheidung unserer Anführer zu akzeptieren oder zu verstehen. Jeden Tag muss ich solches Grauen erleben, dass es mich zerreißt. 

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Ich habe lange mit mir gerungen, ehe ich mich meinen Brüdern und Schwestern offenbart habe. Es ist schön zu sehen, mit wie viel Verständnis und Liebe sie meinen Sorgen gelauscht haben. Wir hatten eine lange Diskussion, in der wir keinen Konsens finden konnten. Aber das war auch nicht wichtig. Ich konnte meine Sorgen loswerden und habe andere Meinungen gehört, manche einfühlsam, andere der kalten Logik unterworfen. Aber jede Meinung war wichtig, um ein Gesamtbild zu erhalten. Es beruhigt mich zu wissen, wo sie stehen und dass niemand dorthin zu fallen droht, wo der Feind steht. Wir sind den fünfen treu bis zum Tod. 

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Lange habe ich hier nichts mehr geschrieben. Es ist so viel passiert. Das Thema hat mich, nein, uns nicht mehr losgelassen. Ich weiß, dass ich schreckliches getan habe und ich hoffe, dass die späteren Generationen Verständnis haben mögen. Es ist mir wichtig, meine Gedanken zu diesem Fall mitzuteilen, der möglicherweise Fragen aufwerfen wird, meine Motivationen und Überlegungen in dieser Angelegenheit. 

Ich möchte betonen, dass meine Handlungen keineswegs leichtfertig oder gedankenlos waren, sondern das Ergebnis einer sorgfältigen Abwägung von moralischen Prinzipien und individuellen Umständen. Als einer der Hüter der Zitadelle bin ich mir bewusst, dass die Einhaltung der Gesetze ein Grundprinzip unserer Gesellschaft ist, eine wesentliche Grundlage für das soziale Gefüge darstellt, uns von den Maßlosen unterscheidet und uns besser macht. Dennoch gibt es Situationen, in denen die strikte Befolgung eines Gesetzes zu einem moralischen Dilemma führen kann. 

In diesem speziellen Fall stand ich vor der Wahl, entweder das Gesetz zu befolgen und damit eine Handlung zu unterlassen, die aus meiner Sicht ethisch geboten war, oder das Gesetz zu übertreten, um zu versuchen, unseren geliebten Kontinent und seine Völker zu retten. Nach reiflicher Überlegung und unter Berücksichtigung der Konsequenzen entschied ich mich für Letzteres. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass mein Handeln nicht aus persönlichem Eigeninteresse oder aus einem Mangel an Respekt vor den Regeln resultierte, sondern vielmehr aus einem tiefen Verständnis für die ethischen Prinzipien, die hinter bestimmten Gesetzen stehen. Es war meine feste Überzeugung, dass das Übertreten des Gesetzes in diesem Fall notwendig war, um einen größeren moralischen Wert zu wahren. 

Ich kann nur hoffen, dass meine Handlungen nicht als bloße Missachtung der Gesetze angesehen werden, sondern vielmehr als einen Akt der Gewissensentscheidung, der von einem tiefen Verständnis für Moral und Ethik geprägt ist. Ich stehe bereit, die Verantwortung für meine Handlungen zu übernehmen und mich den Konsequenzen meines Verhaltens zu stellen. Dennoch hoffe ich aufrichtig, dass meine Perspektive und meine Beweggründe verstanden und die Umstände, die zu meinem Handeln geführt haben, angemessen berücksichtigt werden. 

Ich werde diese Schriften bei einem Jugendfreund verstecken und hoffen, dass die Schreiber der Geschichte die Wahrheit weitergeben. Niemand der Beteiligten hat es verdient, dass die Opfer, die gebracht wurden, geschmälert werden. Aber die Geschichte ist voller Beispiele, die anders verlaufen sind. Ich weiß, dass sie bald hier sein werden, um mich zu holen und ich bin bereit. Mögen meine Kinder, die Sephor’assil, den ewigen Krieg beenden und sie mir vergeben… 

Yvara Silberjäger, Hüterin der Zitadelle