Brief über den versiegten Brunnen am Sechsten Nagel
Lieber Nachem,
wir haben gemeinsam an vielen Stellen unsere Kräfte gegen die Maßlosen eingesetzt, aber nichts ist vergleichbar mit dem, was sich hier am Sechsten Nagel abspielt. Ich mag mir gar nicht vorstellen, welche Spur der Verwüstung die Kämpfe schon auf unserem Weg bis hierher auf und im Land hinterlassen haben. Das, was sich hier abspielt, ist dennoch um so viel schlimmer, als sich das je ein kranker Geist vorstellen kann.
Erschöpfung liegt wie ein bleiernes Tuch über allem. Und wenn ich sage “allem”, dann meine ich es, denn jeder, der dazu in der Lage ist, spürt, dass nicht nur wir - und vermutlich auch die Fanatiker - am Ende ihrer Kräfte sind, sondern auch das Land, auf dem wir unseren Konflikt austragen, nicht mehr lange standhalten kann. Wer weiß, was geschehen wird, wenn wir nicht bald eine Lösung finden.
Indes erreichen mich als erster Posten hinter den Linien mehr und mehr Meldungen, dass sich der Konflikt spürbar einem Punkt nähert, wo eine Entscheidung getroffen werden muss. Wir können unsere Toten nicht mehr zählen, die Verletzten sind kaum noch zu heilen, denn die Kraft unserer Heiler, selbst unserer besten, reicht nicht mehr aus, um zu retten, was unter anderen Umständen noch zu retten wäre.
Und dann erfuhr ich, dass uns eine Ressource, die uns so sicher erschien, auch noch versiegte. Als habe unsere Heimat nun beschlossen, dass sie genug von dem hat, was wir ihr in ihrem Namen antun, hatte sie das Wasser versiegen lassen. Keiner unserer Mitstreiter hat ein Problem damit, eine gewisse Zeit auf Wasser zu verzichten, aber als alle Quellen versiegten, war mir klar, dass wir an einem Scheideweg standen. Wer kann leben, ohne zu trinken? Bei aller Überzeugung, die ich hatte, wurde ich dann auch nervös.
Wieder einmal war es Faitája, die uns rettete. Diese Frau ist einfach ein Wunder. Du weißt doch, dass sie die Tränen derer, denen sie geholfen hat, immer bei sich trägt? Mittlerweile hört man sie schon von Weitem nahen, denn die kleinen Phiolen klingen zuweilen wie Glöckchen. Für die, die ihre Hilfe brauchen, ist dieses Klingeln ein Ton der Hoffnung, denn sie wissen, dass sie nicht mehr alleine mit ihrem Leid sind.
Faitája ist es gelungen, einen der versiegten Brunnen mit den Tränen, die sie bei sich trägt, wieder zum Fließen zu bringen! Frag mich nicht, woher sie die Energie genommen hat, sie ist eine der konsequentesten Bewahrerinnen, die ich kenne, daher gehe ich nicht davon aus, dass sie sich den schwindenden Reserven des Landes bedient hat… aber irgendwie hat sie es geschafft. Unsere Leute haben wieder Wasser und Faitája verschwand gleich im Anschluss, um nach anderen zu sehen, die ihre Hilfe brauchten.
Ein solch tröstlicher Moment währt allerdings nur kurz, mein Freund, das weißt du. Schnell war das Gefühl wieder verflogen und jetzt gerade sitze ich mit Menon zusammen und wir beratschlagen, was wir tun könnten, um diesen “Aufbruch” endgültig aufzuhalten. Sie haben eine ganze Schar Anhänger um sich gesammelt, die ihnen wie hörig folgen. Dabei ist denen vermutlich gar nicht bewusst, dass sich diese sogenannten “Magier” schamlos ihrer Lebenskraft bedienen, wenn sie uns angreifen. Wer weiß, wie lange diese lebenden Energiereserven noch halten, jetzt, wo die Kräfte des Landes, die sie so verheerend ausgenutzt haben, versiegen? Aber was mir auf der einen Seite unendliche Angst bereitet, bringt auch eine gewisse Hoffnung. Wir wissen ja schon lange, dass die Kraft Sarkans endlich ist, aber nun werden auch sie es erfahren. Entweder bringt sie das endlich zur Vernunft, oder wir stehen uns Auge um Auge gegenüber und sind in der Lage, einen Gleichstand zu erreichen, von dem aus sich verhandeln lässt.
Ich hoffe, dieser Brief erreicht dich wohlauf. Bitte lass auch einmal etwas von dir hören. Ich mache mir Sorgen…
Grüße
Dein Bruder Johann
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