Briefe im Zusammenhang mit dem Tribunal
Fehlerhaftigkeit einer Tribunalprüfung
“Herrin, ich habe es nun mehrmals überprüft.
Auch, wenn es mir fern liegt, Eure Fähigkeiten anzuzweifeln, doch Euch muss ein Fehler unterlaufen sein. Das Artefakt, das Ihr entwickelt habt, erfüllt seine grundlegende Funktion, das stimmt. Ich habe alle Gesetzmäßigkeiten, die Ihr in ihm festgelegt habt, überprüft:
-
Zu Beginn der Tribunalprüfung entnimmt es ein Stück Lebenskraft aller Anwärter und speichert sie.
-
Anschließend beginnt es, die Anwärter zu überwachen und versetzt sie kurz vor dem Moment ihres Todes in eine Starre.
-
Die Hellsichtskomponente, die aus ihren Ängsten und Erinnerungen die Form der arkanen Konstrukte formt, funktioniert.
-
Auch der finale Auslöser beim Scheitern der Prüfung funktioniert tadellos und belebt alle Anwärter wieder.
-
Die Botschaft, die ertönen soll, wenn die Anwärter scheitern, würde ertönen, wenn Ihr sie bereits vorbereitet hättet - hier braucht es noch einmal Eure Magie vor Ort.
Ich konnte allerdings nicht überprüfen, was geschieht, wenn die Anwärter gewinnen. Selbst unsere besten Soldaten konnten nicht gewinnen, egal, wie gut sie sich vorbereitet haben. Zunächst hielt ich das für die Schwäche des Trupps, doch dann bemerkte ich ein grundlegendes Problem in der Struktur des Artefakts. Die Lebenskraft, die den Anwärtern entnommen wird, wird nicht nur gespeichert, sondern verstärkt gleichzeitig die arkanen Konstrukte. Auch scheint das Artefakt weiterhin Lebenskraft zu ziehen, selbst wenn es genug Kraft hat, um die Heilung zu vollziehen.
Da die Prüfung in diesem Zustand meiner Einschätzung nach nicht zu gewinnen ist, haben wir eine der Goldene Ketten eingesetzt, um das Tribunal verlassen zu können. Damit die Prüfung ihrem Zweck gerecht werden kann, müsste die Grundstruktur des Zaubers noch einmal überarbeitet werden.
Hochachtungsvoll
Astrea Dragenkrall
Vierte arkane Vorarbeiterin des Tribunal-Projekts”
Sabotage der Prüfung von Shioh
“Diese Schlange! >>Du musst mich begleiten Astrea - Jemand muss mir zeigen, wo genau meine Fehler liegen<< sagte sie. Und ich glaubte ihr! Dass ausgerechnet die Prüfung der Shioh von einer Verräterin gestaltet wurde, ist schon Ironie. Falls dies jemand findet, lasst es mein Zeugnis sein:
Carastra, die Erschaffer der Prüfung von Shioh, stellte sich im Geheimen gegen die Entscheidung des Kriegskonzils und sabotierte das gesamte Projekt! Ich habe gehört. welche Spöttereien sie in ihrer Prüfung verankert hat. Sie hat die Aufgabe so angelegt, dass sie nicht erfüllt werden kann! Und sie hatte nie die Absicht, die Schwäche ihres Zaubers zu verbessern - die Prüfung ist und bleibt unschaffbar. Sie muss verstanden haben, dass ich ihr gefährlich werden könnte, sonst hätte sie mich nicht hier zurückgelassen. Sie hat die Goldenen Ketten mitgenommen, die die Prüfung gelöst haben, und mich hier im Gebiet der Wilden Magie niedergeschlagen. Als ich aufwachte, war das Tribunal schon verschlossen - und wird es wohl auch bleiben. Ich bin nicht die Einzige, deren schreckliches Schicksal es ist, auf dieser Seite zu verbleiben, doch eine der Wenigen, die dies nicht freiwillig tun. Es sollte uns, die wissen, wie das Tribunal entstanden ist, eigentlich ein Leichtes sein, diese Barriere zu überwinden und in unsere Heimat zurückzukehren, doch kaum jemand will sich mit anschließen. Falls sie doch ihren Mut finden, habe ich auch schon einen riskanten Plan, um Carastras Prüfung zu überlisten: Der Schlüssel liegt in dem Artefakt, das die Kämpfenden wiederbeleben soll. Es könnte mit einem starken Impuls von gezähmter Magie - zwei Kraftgefäße sollten genügen - überladen werden. Dann wäre es zwar ein wirklicher Kampf um Leben und Tod, aber die arkanen Konstrukte wären deutlich schwächer und der Kampf gerechter - nicht so eine Farce wie er jetzt ist. Und dann werde ich nach Sarkan treten und Carastra anklagen. Nie wieder soll sie irgendeinen akademischen Titel tragen können, dafür werde ich sorgen!”
Mastron Elogenius an das Auditorium
„Hier spricht Mastron Elogenius Quintus Greifenfeder, Alchemicus Primus.
Heute trete ich vor euch, gegen den Willen vieler meiner sogenannten Kameraden und Kameradinnen auf dieser Seite des Tribunals. Ich habe die traurige Pflicht, Sarkan darüber zu informieren, dass unredliche Personen Teil dieser eigentlich ehrenvollen Gemeinschaft sein sollten.
Das Tribunal ist jetzt einen Mond lang aktiv und Deon, der Sünder, hat ausgiebig gezeigt, dass er in der Lage ist, das Tribunal aktiv zu halten und zu einem gewissen Grad zu beschützen. Dieses eindrucksvolle Zeugnis von Deons Wirken kommt jedoch mit der Erkenntnis, dass einige von uns aktiv daran arbeiten, das Tribunal - notfalls permanent - zu deaktivieren, um nach Sarkan zurückzukehren, weil sie ihr ehrenvollen Schicksal auf dieser Seite der Mauer nicht mehr akzeptieren wollen. Sie alle wussten, worauf sie sich einlassen und niemand wurde hierzu gezwungen. Doch leider sehen das nicht alle so. Es hat sich eine Gruppe von Deserteuren gebildet, die das Tribunal sabotieren wollen. Als eine der Anführerinnen der Gruppierung habe ich Astrea Dragenkrall identifiziert. Nicht nur behauptet sie, sie sei gegen ihren Willen hier - obwohl ich ein von ihr unterschriebenes Dokument, in welchem sie ihr Einverständnis gibt, besitze. Sie behauptet außerdem, dass die Ehrenwerte Magistra Carastra die von ihr angefertigte Prüfung sabotiert habe, sodass sie nicht lösbar sei. Ich kenne Magistra Carastra persönlich und einer Kriegsheldin und aufrechten Person wie ihr so etwas zuzuschreiben, zeugt vom niederen Charakter Astreas. Obgleich ich vermelden kann, dass die Gruppierung um Astrea Dragenkrall abgesehen von wenigen obskuren Theorien keine realistischen Fortschritte zur Öffnung des Tribunals macht, möchte ich jedoch folgende Verbrechen der Obrigkeit Sarkans vermelden:
Die Gruppe hat entgegen ihrer Befehle nicht alle Ketten der Zeit vernichtet. Mindestens eine noch aktive Kette wurde vor ihrer Zerstörung entwendet und eine größere Menge von Kettengliedern wurde vor der Verschmelzung ebenfalls gestohlen. Ich schätze, dass die Gruppe das Potenzial hätte, etwa sechs Ketten zu schmieden. Dazu sammeln und raffinieren sie gegenwärtig Magie, ein erneutes Ignorieren ihrer Befehle. Doch das ist nicht alles. Vor zwei Tagen haben diese Halunken mein Zelt aufgesucht und meine Besitztümer durchwühlt. Leider, so muss ich gestehen, sind ihnen essenzielle Teile meines finalen Berichts an das Kriegskonzil in die Hände gefallen - es handelte sich um einen Entwurf, den ich noch nicht vernichtet hatte. Damit besitzt die Gruppe wertvolles Wissen über die Wirkungsweise der Artefakte des Tribunals. Die noch in meinem Besitz befindlichen Seiten wurden inzwischen den Flammen übergeben.
Ich bitte die Wächter und die Obrigkeit Sarkans hiermit offiziell um die notwendigen Erlaubnisse, die Gruppe zu verfolgen und zu verurteilen.“
Brief vom zurückgebliebenen Bautrupp
“Wir haben nun zum ersten Mal angesprochen, dass es notwendig werden kann, mit einem kleinen Trupp hierzubleiben. Estra besteht darauf, obwohl ich immer noch nicht verstehen kann, was uns hier aufhalten sollte. Vielleicht ist sie aber auch nur vom Einsatz der anderen Trupps so beeindruckt, dass sie glaubt, wir sollten auch eine Abordnung hier lassen, um unseren Einsatzwillen zu zeigen. Was auch immer entschieden wird, wir werden jetzt unsere Aufgabe beenden, egal wie. Niemals mehr darf unsere Heimat von diesen Monstern bedroht werden.”
(mit diesem Brief konnte das Alphabet des Ennomos Codes weitestgehend entschlüsselt werden)
Brief wegen geringer Vorräte und eines Vermissten
“Lothyr,
ich habe heute einmal alles durchgesehen. Unsere Vorräte allein werden uns nicht über den Winter bringen. Der Letzte war schon hart genug. Heilkräuter, Salben und Vorräte sind fast aufgebraucht. Fortschritte bei den Ausbruchsplänen gibt es keine. Und Ehsans Idee, nach Norden zu gehen, scheint wahnsinnig. Aber immerhin sind wir nicht mehr so viele, also halten die wenigen Vorräte länger. Sag den anderen noch nichts davon, aber ich sehe kaum noch einen Sinn darin, weiterzumachen.
Dazu kommt, dass wir Ehsan seit zwei Tagen vermissen. Der Ort, wo sein Zelt stand, wurde von einer heftigen Verwerfung der Magie erfasst. Es ist einfach….fort. Ich weiss nicht, was aus ihm geworden ist, aber ich muss davon ausgehen, dass er tot ist.
Ich vermute, Theodor war dort, als es passierte. Anders kann ich mir seine Wunden nicht erklären. Fleisch sollte nicht diese Farbe haben. Ich bezweifle, dass er die Nacht übersteht.
Bleibt also eine Handvoll von uns. Und Mastron und seine Ratten, die sich irgendwo verkrochen haben. Wir sollten uns, so bald es geht, treffen. Wir haben schwere Entscheidungen vor uns.
Astrea”
Brief über die Veränderung des Tribunals zur Energiegefäßherstellung
“Astrea,
wenn du dies findest, haben die Pilze ihren Dienst getan und mich ruhig einschlafen lassen. Ein Maul weniger, das ihr versorgen müsst. Der Winter kommt und ich weiß, wie es um die Vorräte steht.
Ich weiß, du magst mich einen Feigling nennen. Und es stimmt, das bin ich. War es mein Leben lang. Ich lebe eine Lüge und will, nein, kann dir nicht ins Auge sehen, wenn du sie herausfindest. Theodor hat mein Geheimnis herausgefunden, dafür habe ich ihn in die Wilde Magie gestoßen. Ich hoffe, er wird sich erholen. Auch wenn er mir nicht verzeihen mag: Es tut mir leid.
Du magst es vielleicht nicht glauben, aber die letzten Jahre waren die besten meines Lebens. Die Arbeit und das Leben mit euch am Tribunal. Das Lösen von Problemen, die sich jeden Tag aufs Neue auftaten. Daran mitzuarbeiten, wie auf die Kriege ein Schlussstein gesetzt wird. Die Arbeiten gaben mir ein neues Ziel, nachdem all meine Wünsche und Hoffnungen in der Schlacht des brennenden Himmels in Flammen aufgingen. Der, dem ich folgte, ließ dort sein Leben. Und ich konnte seinen Weg nicht wie die anderen weitergehen. Ich wünschte, ich hätte das goldene Land, von dem Assil erzählt hat, sehen können. Doch ich wurde für tot gehalten und zurückgelassen, genau wie er. Jetzt haben sie sich eingesperrt.
Mein Name zu dieser Zeit war Zakeni Ysdar. Du hast mir erzählt, wie gerne du einmal den fernen Süden bereist hättest. Wenn du gewusst hättest, dass ich von dort stamme. Ich bin viel weiter gereist, als du ahnst. Ich bin auch viel älter, als du glaubst. Magie kann vieles vollbringen, wenn man sie richtig einsetzt. Ich hatte gehofft, dass ihr das spätestens jetzt, wo wir hier festsitzen, ähnlich seht. Aber ich habe schnell gemerkt, dass ich meine Gabe besser verberge. Und so wurde ich Ehsan, der einfache Steinmetz. Ich kann nur ahnen, wie es euch geht. Bitte glaubt mir, meine Freundschaft zu euch war nicht gelogen. Sie war das beste, was ich in meinen späten Jahren erlebt habe.
Zum Abschied habe ich noch ein letztes Mal gewirkt und ein Geschenk für euch vorbereitet. Schaut in die Kiste an meiner Schlafstätte, dort habe ich einige gefüllte Kraftgefäße versteckt, die euch vielleicht nützlich werden. Zumindest die Elfen sollten mit der Magie etwas anfangen können. Vorausgesetzt, ihr könnt damit leben, wie ich sie bekommen habe. Ich habe es geschafft, die Macht von Deon und dem Tribunal zu nutzen, um neue Gefäße zu erschaffen. Ich musste allerdings einen kleinen Trick anwenden: Ich habe die Zauber des Tribunals so manipuliert, dass es aus der Macht einer bestandenen Prüfung ein neues Kraftgefäß erschafft. Ich hoffe, euch so einige Zeit zu schenken. Hätte Theodor mich nicht bei meiner Magie beobachtet, hätte ich euch selbst davon erzählen können. Aber so sollte es wohl nicht sein.
Leb wohl Astrea. Verzeih meine Lügen und finde einen Ausweg!
Ehsan”
Brief über die missglückte Herstellung der Goldenen Ketten
Gestern ist Tyres von uns gegangen. Ich habe seine Schmerzen so weit es geht gestillt. Doch die Brandwunden durch die Entladung der Wilden Magie waren letztlich zu schwer. Verdammt sei das Dazwischen. Uns war klar, dass wir mit Sicherheit hier sterben würden. Aber wir ahnten nicht, wie. Flammenstürme, eisige Winde, das Gefühl zu ertrinken oder begraben zu werden. Jeder Tod ist grausam hier,
Tyres, der letzte Rhînländer aus unserer Gruppe, war einer derjenigen, die versuchten, die Goldenen Ketten zu schmieden. Mit seinen letzten Atemzügen hat er versucht, sein bisheriges Wissen weiterzugeben. Auch wenn es nutzloses Wissen ist - niemand von uns kann mehr die Macht und Entschlossenheit für solch ein großes Werk aufbringen - ich habe ihm versprochen, das, was er sagte, aufzuschreiben. Tyres sprach unsere Sprache jedoch nur gebrochen und darum kann ich nicht garantieren, dass ich alles richtig verstanden habe.
Tyres beschrieb ihre Pläne wie folgt:
Das große Problem war, genug und die richtige Form von Magie aufzubringen, um die goldenen Ketten zu schmieden. Die gezähmte Magie, die wir nutzten, war zu unspezifisch und nicht konzentriert genug. Eine mögliche Lösung fanden sie in den kleinen Kugeln, die sich bei der Benutzung der Raffinerien manchmal manifestierten. Dabei handelte es sich wohl um reine Kraft eines bestimmten Elementes - oder im Fall der goldenen Kugeln um eine ausgleichende Macht, die Teile vieler in sich vereinte. Tyres erzählte mir irgendetwas von seiner Heimat, dass Kraft wie diese auch dort zu finden sei, aber vieles von dem, was er erzählte, muss wohl seinen Fieberträumen entsprungen sein. Aber andererseits: Die ursprünglichen Goldenen Ketten wurden, bevor sie nach Rhînland gebracht wurden, aus Artefakten von dort erschaffen. Vielleicht ist doch etwas Wahres daran?
In jedem Fall schien der Plan Tyres und der anderen zu sein, fünf Kraftgefäße mit jeweils einer Sorte dieser elementaren Kristallkugeln zu füllen, und diese Macht zu nutzen, um damit eine normale Kette zu verzaubern. Er versuchte mir zu erklären, wie genau dies vonstatten gehen sollte, aber ich konnte nicht folgen. Das Wichtigste sei aber, so betonte er, dass die Kräfte im Gleichgewicht seien.
Tyres erklärte mir auch, woran die Gruppe gescheitert war. Es fällt mir auch jetzt schwer, die vollkommene Hoffnungslosigkeit in seinen Worten zu vergessen. Zwei Sätze, bevor er sein Leben aushauchte: “ Nicht genug Kraft”, sagte er und deutete auf den kleinen Haufen Elementkugeln, die wir bisher gesammelt hatten. Wir hatten so viel Magie, wie wir konnten, raffiniert, und gerade mal zwei Dutzend von ihnen zusammenbekommen. Um ein Gefäß zu füllen, hätten wir, so schätze ich, die vierfache Menge gebraucht. Und das von jeder der fünf Farben. Dazu kommt, dass einige der Kugeln sich bereits aufgelöst haben - die Wilde Magie macht sie instabil. “Nicht genug Wir”, war der zweite Satz, und er deutete dabei auf sich und mich. Und ich verstand. Wir waren nicht einmal mehr zehn Überlebende auf dieser Seite des Tribunals. Astrea krallt sich an irgendwelche Hoffnungen, aber die meisten von uns haben ihr Schicksal akzeptiert. Wenn die Erschaffung Goldener Ketten nur ein wenig so funktioniert, wie die der einfachen Ketten, dann benötigen wir mehr Wirker als wir noch haben. Und da die Kraft, die dort entfesselt würde, gewaltig wäre, vermute ich, dass eine Person pro Kraftgefäß nicht ausreichen wird - es werden mindestens drei, eher fünf benötigt, wenn ich die Kraft der Elementkristalle richtig einschätze.
Dies ist alles, was ich verstanden habe. Damit sehe ich mein Versprechen an dich, Tyres, als erfüllt an. Ich werde heute Abend noch einmal zum Auditorium gehen. Vielleicht hört mir heute jemand zu. Ich glaube, die Wächter auf der anderen Seite haben beschlossen, dass sie nicht länger die Klagen und Vorwürfe von uns Todgeweihten hören wollen. Scheinheilige Mistkerle. Sie versprachen uns, bis zum Ende da zu sein. Doch sie hören nicht mehr zu.
Tagebucheintrag von Bethara, zweite Vorarbeiterin des Bautrupps Melafarn
Wie sehr ich mir manches mal gewünscht habe, ich wäre nicht hier geblieben!
Natürlich habe ich, wie alle anderen auch, aus Überzeugung gehandelt. Jetzt bin ich hier, außer mir aber niemand mehr und ich frage mich, ob meine Entscheidung, am Sechsten Nagel zu bleiben, wirklich richtig war.
Inzwischen bin ich schwach und meine Hand kann den Stift nur noch kurze Zeit am Stück halten, aber ich will aufschreiben, was mich bewegt, bevor ich mich zurückbegebe in die Arme von Imsah, die mich in ihrem silbernen Licht empfängt.
Die Zeit, nachdem sich der Nebel verdichtet und den Weg nach Sarkan versperrt hat, hat uns in ein Hochgefühl versetzt, wussten wir doch, dass wir unsere Aufgabe erfüllt und unsere Heimat geschützt haben. Aber dieses Hochgefühl ist schnell gewichen, als wir verstanden, was es bedeutet, in dieser Umgebung leben zu müssen.
In unserer Begeisterung hatten wir wohl kaum gedacht, was es tatsächlich heißt, abgeschnitten von den Liebsten zu sein, ohne Hoffnung auf Wiederkehr und nur durch die rare Möglichkeit einer Kommunikation durch das Auditorium noch mit den Lebenden verbunden.
Es dauerte nicht lange, bis die Ersten unter uns darüber nachdachten, wie man doch noch dem Nebel entrinnen könne. Die einzige Möglichkeit, zu tun, was sie anstrebten, war, die Prüfung des Tribunals zu bestehen, die Wappenröcke überzuziehen und durch das Portal zu gehen. Für uns, die wir das Tribunal gebaut haben, nicht gänzlich unmöglich, allerdings hätten wir damit die Arbeit von Jahren zunichte gemacht. Niemand von uns würde das tun. Oder doch?
Ich kämpfe mit Schwindelanfällen, auf den Beinen kann ich mich kaum noch halten. Warum auch, es gibt nichts, was ich tun könnte. Sie alle sind fort. Ich habe Mastrons ausgemergelten Körper gefunden. Immerhin hat der Mörder Astreas seine gerechte Strafe bekommen.
Als die Nahrung knapp wurde, konnte man hier und da die Überzeugung schwinden spüren und die Blicke auf die Wappenröcke wurden begehrlicher. Der Gemeinschaftssinn, der uns all die Zeit hatte überleben lassen, verschwand mit jedem Hungerknurren mehr. Die Freundschaft, die wir gemeinsam gepflegt hatten und die uns verband, wich dem Misstrauen, dass der, den wir an einem Tag noch unseren Freund genannt hatten, uns am nächsten Tag schon zurücklassen würde, ohne Aussicht auf Rückkehr. Und dann begannen sie, sich gegenseitig anzugreifen und aus uns wurde, was wir am meisten fürchteten. Zu diesem Zeitpunkt empfand ich das schon nicht mehr als schlimm, denn ich war jenseits der Angst, jenseits der Hoffnung.
Und dann hörte ich nichts mehr. Ein letzter Schrei, von dem ich nicht wusste, dass es der letzte sein würde, als ich ihn hörte. Danach war Stille. Ich wanderte umher, vorsichtig und immer auf der Hut, aber ich fand niemanden mehr. Zumindest niemanden, der lebte.
Vielleicht findet ja irgendwann jemand diese Zeilen, dann sei gesagt, dass ich bis zum letzten Ende standhaft war. Sarkan ist meine Heimat, die ich schützen wollte, und ich habe es getan, obwohl ich mich mit dem letzten bisschen Leben vor dem Tod fürchte, den ich gewählt habe. Ich kann nicht mehr gehen und nach Nahrung suchen, im Dazwischen gedeiht nichts, was mich ernähren könnte, und ich bin inzwischen zu schwach, um weitere Entladungen der wilden Energie zu überstehen.
Imsah, sei meiner Seele gnädig.
Bethara, zweite Vorarbeiterin des Bautrupps Melafarn, am Sechsten Nagel
Keine Kommentare vorhanden
Keine Kommentare vorhanden