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Skythia

Die Geschichte von Skythia, die die Wahrheit sprach - 

Skythia wuchs an den Ufern des westlichen Sarkan auf, dort, wo die Strömungen des Trellsund die beiden großen Meere voneinander trennten. Auch wenn man an den Stränden von Garond die Inseln im Silbernen Meer nicht sehen konnte, wusste doch jeder, dass sie da waren. In Geschichten und Erzählungen waren die Hallen des Wissens in Atlam und die Inseln im Sund allgegenwärtig. Skythia konnte den Erzählungen ewig lauschen, sie war fasziniert von Geschichten und Geschichte und es war ihr nie genug, nur die oberflächliche Erzählung zu hören, sie wollte mehr wissen. Mehr von den Wesen und ihren Gefühlen, Motiven und Erfahrungen, mehr von der Welt, die in ihrem Kopf gleich hinter der schmalen Linie begann, an der das Meer den Himmel berührte.

Ihr Wissensdurst wurde zunächst als reine Neugierde gewertet, dann aber zeigte sich, dass hinter dem Wunsch, mehr zu erfahren, magisches Talent lag. Skythia, so zeigte sich, nahm Informationen anders auf als andere Kinder. Während ihre Spielgefährten von Geschichte zu Geschichte hüpften wie Bienen von Blüte zu Blüte, tauchte Skythia ein, und nahm auf, und die Geschichten legten sich mit ihren ganzen Farben und Facetten auf ihr Wesen, ihr Innerstes. 

Die Wahl der Ausbildungsstätte lag auf der Hand, niemals hätte Skythia eine andere Akademie als Atlam gewählt, die dort lag, wo sie an klaren Tagen glaubte, das Gleißen von goldenen Turmspitzen weit hinten am Horizont sehen zu können.

Die goldenen Türme aus ihrer Vorstellung gab es zwar nicht, als Skythia in Atlam ankam, aber ein derartig großes und umfangreiches Wissen, dass die junge Frau zuweilen glaubte, darin zu ertrinken. Die Hörner von Uuhl mussten sie niemals zum Unterricht rufen, denn sie war immer schon da und ihre Stubengefährtinnen glaubten zeitweilig, dass sie sogar in den Hallen des Wissens schlief.

Ihre magische Begabung unterschied sich von denen ihrer Mitstudenten sehr, Skythia wirkte Magie vorwiegend nach innen, um Informationen aufzunehmen und in sich abzulegen, sodass sie diese jederzeit wieder hervorholen konnte. Jeder, der sie bei ihrem Tun beobachtete, verglich sie mit einer “lebendigen Bibliothek” und nicht selten wurde sie zuerst von den Dozenten gefragt, ob sie zu einer bestimmten Frage schon etwas gelesen hatte, bevor die langwierige Suche nach bestimmten Textstellen begann. 

Schon bald entschieden die Ältesten von Atlam, dass Skythia die geeignete Person wäre, um Wissen von einem Ort zum anderen zu bringen und die Fülle des Wissens, das in den unterschiedlichen Akademien Sarkans zusammengetragen worden war, miteinander zu vergleichen und abzustimmen, sodass alles an allen Orten gleichsam zugänglich sein würde.

Dieser Plan wurde niemals umgesetzt, denn der Konflikt, der sich in den Reihen der Magier wie ein Steppenfeuer ausbreitete, erreichte auch die Hallen des Wissens in Atlam und fortan waren die Worte, die man dort hören konnte, voller Agitation und offenem Zorn. Diskussionen gab es bald keine mehr und es war klar, dass diese Uneinigkeit zum Krieg führen würde.

Skythia nahm alles, was um sie herum geschah, auf wie ein Schwamm und war im Stande, die genauen Wortlaute einzelner Personen einer Unterhaltung wiederzugeben. So trug sie unwissentlich und ungewollt zuweilen dazu bei, dass sich Standpunkte verhärteten und der Diskurs zum Erliegen kam, aber sie fühlte sich zu jedem Zeitpunkt der Wahrheit verpflichtet und war nie bereit, nachträglich an ihren Erinnerungen etwas zu verändern. Ihre einzigartige Fähigkeit speiste sich vor allem aus ihr selbst, was sie frühzeitig deutlich altern ließ. Der Gedanke, für ihr Tun auf die Kraft des Landes oder die eines anderen Wesens zuzugreifen, kam ihr nicht. 

Dass sie sich den Bewahrenden verpflichtet fühlte, lag auf der Hand.

Nachdem der Lehrbetrieb sein Ende fand und sich Studierende wie Dozenten in alle Winde verstreuten und den jeweiligen Lagern beitraten, blieb Skythia noch einige Zeit in der staubigen Ruhe der Hallen des Wissens. Es war ihr innigster Wunsch, in den Hallen zu verbleiben und all das gesammelte Wissen in sich aufzunehmen, auch wenn ihr mehr und mehr bewusst wurde, was sie damit ihrem Körper abverlangte. Während ihre Altersgenossinnen noch voller Elan und Pläne durchs Leben schwebten, konnte man schon Schwere in Skythias Schritten sehen. Sie nutzte die kurze Zeit, die ihr noch in den Hallen verblieb und genoss die Stille, die nur vom Rascheln des Pergaments unterbrochen wurde, das sich im warmen Wind bewegte.

Ihr Plan war es, zurück nach Garond zu reisen, doch schon bei ihrer Ankunft auf dem Festland konnte sie erste Anzeichen des Krieges sehen und wurde Zeuge von Propaganda. Maßlose hatten die Gegend besucht, in der sie an Land gegangen war, und die Bewohner aufgestachelt. Skythia wusste um die Ansichten des “Aufbruchs”, wie sich die Gruppe nannte, und erkannte sofort die perfide Manipulation der Wahrheit, die in den Aussagen steckte. Wie ein Bluthund begann sie, den Spuren der Agitatoren des Aufbruchs zu folgen und erreichte jeweils kurz, nachdem diese abgereist waren, die Orte, um dort die Wahrheit zu verbreiten. 

Das war, was Skythia tat: Sie berichtete, was geschehen und gesagt worden war, sie erklärte, wo die Ursache des Konfliktes zu finden war und überließ den Wesen, denen sie die Wahrheit gebracht hatte, selbst zu entscheiden, welcher Seite sie sich zuwandten.

Skythia Weitwassers Reise durch Sarkan blieb nicht unbemerkt,  insbesondere die Mitglieder des Aufbruchs wurden auf sie aufmerksam. Ihre kontinuierliche Verbreitung der Wahrheit führte vielerorts dazu, dass bereits “eingenommene” Gegenden sich wieder den Bewahrern zuwandten und die Saat des Aufbruchs, so gut sie auch ausgebracht worden war, keine Früchte trug.

Skythia war sich bewusst, dass sie in Gefahr war, das hielt sie aber nicht auf. Sie konnte sehen, was der Aufbruch tat und als magiebegabte Person konnte sie die Wahrheit hinter der Erkenntnis, dass ungezügelte Magienutzung dem Land schadete, am eigenen Leib spüren. Sie stand fassungslos auf den verlassenen Schlachtfeldern und tröstete jene, die durch den Kampf der Magier alles verloren, was sie besaßen. Sie spürte die Angst jener, die gezwungen wurden, eine Seite von etwas zu wählen, was sie nicht verstanden, und verbarg sich vor denen, die sie als einzelne Magierin für das zahlen lassen wollten, was ihnen von anderen angetan worden war.

In den wenigen Stunden des Friedens, die Skythia fand, wo immer sie eine Niederschrift entdeckte oder ein Dokument unter ihre Augen kam, das sie nicht kannte und dass ein weiteres Licht des Wissens in ihren Geist trug, versuchte sie zu vergessen, wie groß die Gefahr war, in der sie sich befand. 

Das Schicksal wollte es, dass Skythia starb, als sie tat, was sie für die wichtigste Aufgabe in ihrem Leben hielt: die Wahrheit zu verbreiten. Auf dem Marktplatz des kleinen Weilers hatten sich vorwiegend Bauern versammelt, die ihr von den Versprechen des Aufbruchs, ihre Ernte zu vervielfachen, erzählten. Skythia erklärte gerade, welchen Preis dieses Geschenk haben würde, als sie tödlich getroffen niedersank. Niemand wagte, sich ihrer Leiche zu nähern, solange man nicht wusste, ob der oder die Angreifer noch in der Nähe waren. Als die Dunkelheit über Sarkan hereinbrach, trugen sie die Hüterin der Wahrheit in ein Haus und schmückten ihr Haupt mit Blumen. Auch wenn Skythia den Krieg nicht verhindern oder beenden konnte, so trug sie doch die Wahrheit mutig in jeden Winkel des Landes und opferte dafür sogar ihr eigenes Leben.