Von Ratio und dem Pakt der Neun
Brief eines Zauberers aus Mythodea in die Mittellande
Die Mächte mit Dir, werter Freund.
Ich hoffe Du und die Deinen befinden sich weiterhin wohl. Ich kann glücklich vermelden, dass es sich bei uns alles zum Besten gelöst hat, auch wenn Elavie noch ein wenig unserem alten Heim nachtrauert. Doch wer wollte klagen, andere verloren viel mehr, und dabei so manches, das nicht ersetzt werden konnte. […]
Da Du mich in der Vergangenheit des öfteren begierig zum Thema der Geheimnisse um Ratio befragtest, und ich Dir bislang nie umfassend Antwort zu geben die Zeit hatte, will ich dies nun nachholen, damit Deine Neugier gestillt werde.
Was ist die Ratio?
Diese Frage, werter Freund, wurde oft gestellt in den letzten Jahren, sowohl von den größten Denkern, als auch von einfachen Geistern. Ich will ganz aufrichtig sein, denn Du verdienst gewisslich keine halbwahren Faseleien: Wir haben nach wie vor keine Ahnung, so schmerzlich auch das Eingeständnis unserer Unwissenheit ist. An Erklärungsversuchen und Theorien herrscht freilich indes kein Mangel: „Weltenzweifel“, „Grenzenlose Vernunft“, „Ideenflut“ und „Schöpferwahn“ sind häufig gesprochene Schlagworte, die jedoch allesamt die eigentliche Frage geschickt umschiffen, denn all diese Antworten beziehen sich ja nur auf Geisteszustände. Fest scheint zu stehen, dass Ratio diese Geisteszustände auslöste und die Herrscher in Folge dessen begannen Neues zu erschaffen, was in der Kathastrophe der unkontrollierbaren Verfemten zu enden kam.
Doch all dies erklärt nicht, woher sie die Macht nahmen tatsächlich in Geist und Tat ihr Wesen und die Natur der Welt selbst zu überwinden. Es muss wohl noch mehr dahinter stecken, zumal selbst ich, nach reiflicher Überlegung, einfach nicht begreifen mag, wie denn eine schiere, körperlose Idee oder Verstandeshaltung „versiegelt“ werden soll, (wie es ja mit Ratio zur Zeit der Fall ist) zumal es ja jedem von uns weiterhin möglich ist, mit ein wenig Phantasie die eine oder andere originelle Idee hervorzubringen, oder sich Dinge, zum Beispiel von Außerhalb Mitrasperas in dieses Land hineinzudenken und vorzustellen, oder den Gegebenheiten der Welt kritisch gegenüber zu stehen. Mit Sicherheit kann man wohl nur sagen, das Ratio kein Verfemtes im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr die Quelle der Verfemten ist. Ich fürchte, werter Freund, weitere Spekulationen wären, ohne neue Fakten gefunden zu haben, schändliche Verschwendung an Zeit und Pergament.
Ich will Dir also lieber ein wenig zur Geschichte und sicher verbrieften Tatsachen schreiben.
In der Geschichte Mitrasperas gab es, wie Du vielleicht schon hörtest, eine Zeit die sich „das goldene Zeitalter“ nannte und in der, nach allem was man weiß, die alten Herrscher ihre Künste und Mächte in jeder Art zur Meisterschaft gebracht hatten. Kaum vorstellbar müssen ihre Werke für uns heute sein.
Doch zu jener Zeit war es eben auch, als manche Herrscher das, was wir heute „Ratio“ nennen (was es denn nun auch immer sein mag), verwendeten oder erfanden und so Idee auf Idee in die Welt brachten. Die „Urzweifler“ nennt man jene Herrscher.
Einige der bevorzugten Schüler dieser Urzweifler erkannten jedoch die Gefahr, dass durch immer neue Schöpfungen die Welt wohl mit der Zeit zu Grunde gehen würde. Sodann verbündeten sich also jene mit denen, die ohnehin der Ratio feindlich gegenüber standen, und die Welt in ihrer ursprünglichen Form erhalten wollten, den „Eisernen“.
Es waren 9 der mächtigen Herrscher die sich in einem Geheimbund, weiterhin als „Pakt der 9“ bekannt, zusammenschlossen. Geheim war dieser deshalb, weil sowohl unter den fortschrittlichen Zweiflern, als auch unter den konservativen Eisernen, selbst im Angesicht der Gefahr die Meinungsfronten schon so verhärtet waren, das beide Seiten die „Neunbündler“ als Verräter gejagt hätte, dafür dass sie mit Angehörigen des feiondlichen Lagers gemeinsame Sache machten. Doch die Neun kannten nur ihr Ziel und wussten ihre Tätigkeiten wohl zu verschleiern. Ihre Namen aber sind uns bis heute überliefert, da wesentlich später der Pakt in aller Munde kam.
Sephistikos, der Erschaffer des Schwarzen Eises war derjenige der Urzweiflerschüler, der den Pakt ins Leben rief. Garwan, der König der Untoten von Ankor Mortis, Thul Ag-Mîn, der mächtige Pestilenzherrscher und Träger des Magnatanskeletts, sowie Ashantiala, die spätere Waffenmeisterin der Leere (wobei diese wohl nur eine Strohpuppe ihrer feigen Meister gewesen sein dürfte) waren die Vertreter auf Zweiflerseite. Marien de vo Canar, zu der Zeit Nyame des Nordens, viel später sogar hohe Nyame, und die Frau, die den Weltenbrand auslöste, trat im Namen Magicas ein und Khor'Zuhl, der Erschaffer der Weißen Portale wartete mit seinem aerisgefälligen Genie auf. Du siehst wohl, werter Freund, es sind große Persönlichkeiten, von denen ich Dir schon früher berichtete, die sich hier trotz aller Gefahren und Verschiedenheiten zusammentaten. Die fehlenden drei Namen sind zwar bekannt, doch kennt man von diesen sonst keine großen Werke oder Geschichten. Vielleicht mag sich von ihnen noch das Eine oder Andere in der Zukunft offenbaren.
Jene Neun erwählten den Ort des Sturzes des Quihen Assils „Quin'Khal“ um ihr Werk zu tun, denn der unheilvolle Staub des toten Sterns hatte die Elemente dort erblinden lassen, und alle Sterblichen mieden die Stelle, da sie ihnen als verflucht galt. Doch dem Pakt diente der schwarze Sternenstaub fortan als Material ihrer Werke.
Um Ratio zu besiegen wurden zunächst Lebewesen erschaffen, das Volk der „Kan“. Diese, werter Freund, waren kräftig und arbeitsam, jedoch geistig recht beschränkt, weshalb aus den Kan die „Rikan“ entwickelt wurden, welche zwar scharf im Geiste, doch schwach an Seele waren. Als höchste Form des Volkes der Siegelbauer, wie man später die 3 Rassen gemeinsam nannte, wurden Wesen mit Namen „Xerikan“ erbaut, die komplett seelen- und willenlos, doch von überragender Stärke und Folgsamkeit waren. Diese letzten sollten als unbezwingbare Kriegsmaschinen und später auch als Siegelschlüssel fungieren, denn das Volk der Siegelbauer erstellte am Ort des Sternensturzes, der fortan „Siegelstatt“ genannt wurde, eine gewaltige Konstruktion um Ratio zu verbannen: Das erste und mächtigste Siegel, dessen Funktionsweise und Aufbau uns heute ebenso rätselhaft bleiben müssen wie die Natur Ratios selbst.
Inzwischen war jedoch schon offen Krieg ausgebrochen und die Eisernen drangen auf die Zweifler, und umgekehrt, mit aller Inbrunst ein. Auch hier wissen wir wenig mehr als die Endresultate. Wie es in den Wirren der Kämpfe gelang, das Siegel an seinen Bestimmungsort zu bringen, wie das Schlachtenglück die Gezeiten des Krieges vor- und zurückwogen lies und welche Heldentaten vielleicht vollbracht wurden, ist bis heute im Nebel der Geschichte verborgen. Am Ende stand jedoch der Erfolg des Paktes der 9, aber zu einem hohe Preis.
In ihrem letzten Aufbegehren hatten die Urzweifler das Volk der Edalphi, das ihnen erst gedient, sie später aber wiederum verraten hatte, mit einem grausamen Fluch der Kurzlebigkeit belegt.
Zigtausende waren gestorben, darunter auch viele aus den Völkern der Herrscher.
Auch wenn der Krieg zu Ende und Ratio verbannt war, wurde zumindest Marien de vo Canar, die sogar ihr eigenes Kind geopfert hatte um den Siegelschluss zu ermöglichen, schwer für ihre Taten bestraft und lebte lange in Schande und Buße, bevor sie sich rehabilitieren konnte. Wie es den anderen ergangen sein mag, ist nicht überliefert.
Die Herrscher der Verfemten gingen als Sieger vom Feld. Orphaliot aber, der Anführer der Eisernen, schwor Vernichtung allen Verfemten und überzog das Land mit weiteren Kriegen, bis er und seine fanatischen Anhänger schließlich auch verbannt wurden. Es folgte die Ära der Waffenmeister, zu der ich Dir demnächst gewisslich noch das eine oder andere schreiben werde.
Kan, Rikan und der letzte verbleibende Xerikan wurden in Siegelstatt in Stasis versetzt. Die Siedler fanden jenen Ort ja unlängst, Du wirst dich an meine Briefe aus jener Zeit erinnern, werter Freund, und konnten nicht nur einen Großteil der Geschichte, die ich Dir grade geschrieben habe ergründen, sondern auch den Xerikan erwecken und unter ihre Kontrolle bringen, was ein großes Glück war, da hierdurch der von Argus geknechtete Avatar Terras wiederum befreit werden konnte.
Ich denke, nächstes Jahr um diese Zeit werden wir wohl mehr wissen, denn viele der offenen Fragen werden sich am Siegel Ratios, das wir ja nun endlich mit dem Heereszug erreichen sollen, gewisslich aufdecken lassen.
Ich hoffe, dass meine Ausführungen Dich ebenso gelehrt wie unterhalten und Deine Neugier vorerst gestillt haben, werter Freund. Ich erwarte voller Vorfreude Deinen nächsten Brief. Grüß mir die Deinen und mögen die Mächte mit Euch sein.
(Dieser Text ist eine Abschrift aus der ursprünglichen Wanderbibliothek der Ouai)
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