Vom Untoten Fleisch
Aus den verstreuten Schriften eines betrunkenen Gelehrten
Das Untote Fleisch ist eine im Verhältnis recht einfach zu verstehende Erscheinung. Wie alle Verfemten entstammt die Idee der Zeit des Zweifels im Zeitalter der Herrscher, doch unterscheiden sich die wandelnden Leichname in einem wesentlichen Punkt von den übrigen Übeln, welche der Größenwahn der Herrscher hervorbrachte: Die Energiequelle des Untodes, der sogenannte „Nechaton“ ist eine natürliche Erscheinung, die existiert seit die Seele des Landes im Zuge der Schöpfung durch die Quihen Assil belebt wurde. Das notwendige Gegenstück zum Leben ist der Tod denn nichts kann sein ohne Widerpart. Doch wo die Seele des Landes danach strebt, Leben aus sich heraus zu gebären und den ewigen Kreislauf von Gedeien und Vergehen aufrecht zu erhalten, da bringt der Nechaton nur Vernichtung und Grabeskälte. Der Untod offenbart sich somit nicht als verfemte Schöpfung im eigentlichen Sinne, sondern nur als widernatürlicher Missbrauch einer Naturkraft, zum Zwecke der Verhöhnung der Natur selbst. Den Forschern der Herrscher gelang es die Macht des Vergehens zu verwenden um sich selbst zu erhalten und darüber hinaus mit großen Zauberkräften auszustatten. Der Preis für diesen Frevel gegen die Natur des Lebens war die Verzerrung der Seele bis zur Unkenntlichkeit und der ständige Verfall des Leibes, sowie die Ächtung durch die wahren Elemente.
Der Untod ist das einzige Verfemte, das sich tatsächlich kulturschaffend zeigt, oder besser gesagt, dessen Anwender sich ein Mindestmaß an Kultur bewahrt haben. Damit ist auch schon eine entscheidende Sache angedeutet, die die Unlebenden auszeichnet: Sie sind mit Nichten bloß wandelnde Kadaver, sondern denkende, vernunftbegabte und eigenständige Individuen, die ihre fauligen Körper wie Kleidung tragen. Sie leben in einer geordneten Gesellschaft, verüben Hand- und Kriegswerk. Ob ihnen auch Künste, Wissenschaft und Handel Begriffe sind, konnte bisher nicht geklärt werden. Die meisten der untoten Seelen entstammen dem ansonsten ausgestorbenen Elementarvolk der „Ankoreaner“ (welches im Süden Mitrasperas lebte), manche der Herren des Untodes wohl auch dem alten Herrschervolk Terras, dessen Name vergessen wurde. Auch manche Siedlerseele soll heutzutage in den Reihen der Untoten wandeln.
Als Besonderheit des Volkes der Untoten muss ihre extreme Religiösität angesehen werden, denn eine Entität unbekannter Herkunft und Natur wird von allen, deren Existenz am Nechaton hängt, als Göttin und Spenderin des ewigen (Un-)Lebens verehrt: Die Knochenkönigin. Eine ganze Kirche mit vielerlei Ämtern und Rängen aus Priestern und Zauberern preist fortwährend diese Götzin, wirkt in ihrem Namen dunkle „Wunder“ und hat auch die Verpflanzung von alten und jungen Seelen in frische Körper zu besorgen.
Wessen Seele vom Nechaton berührt wurde, der vernimmt stets die lockende Stimme der Königin. Jeder Untote sieht sich selbst als Kämpfer „für die gerechte Sache“ der Königin, wider die Gnadenlosigkeit Terras, die ihre Leiber zerfrisst, und gegen die Siedler, die nach dem Land trachten, welches aus Sicht der Ankorianer ihre angestammte Heimat ist…
Auch wenn der Untod zweifelsfrei eine verfemte, den wahren Elementen ungefällige Schöpfung ist, so ist sie doch, trotz allen Ekeln und Grausamkeiten ihrer selbst, von allen Verfemten dasjenige, das am „menschlichsten“ geblieben ist. Die Untoten streben weder nach der Vernichtung der Welt, noch nach deren vollkommener Vreinnahmung oder schlichtweg dem sinnlosen Wahn, wie die anderen Verfemten.
Wen man an Personen aus der untoten „Gesellschaft“ vom Namen her kennen sollte, ist (neben der Knochenkönigin) ihr König, genannt „Garwan der Ewige“, sozusagen der weltliche Herrscher über die untoten Horden, dann „Gerchow Pariwal“ (der sich stets mit unzähligen Titeln schmückt) einer der führenden Forscher aus alter Zeit, der maßgeblich an der Erforschung des Untodes beteiligt war und bis vor kurzem noch seine grausamen Experimente an Unschuldigen machte. Sodann ist ein gewisser „Hector“ zu erwähnen, ein Zauberschmied und Baumeister aus alter Zeit, der Artefakte von großer Macht schuf und auch die untote Festung „Doerchgard“ plante. Die „Herzöge“ der Untoten nennen sich „Lairds“ und einige sind durch ihre Präsenz auf den Schlachtfeldern zu schauriger Bekanntheit gelangt: „Igraina of Barrenbay“, „Garrick of Corpsedale“, „Cenneth of Flowerfield“, „Raghayn of Silent Hill“… Wer weiß wer noch alles auf uns wartet.
Große Teile des Südens sind fest in der Hand der Untoten, unter anderem sogar das Siegel, unter welchem er dereinst weggesperrt war. Dies lässt sich damit erklären, das jenes Siegel ohne das Wissen der Hauptstreitmacht der Siedler, die Paolo Armatio folgen, geöffnet wurde. Eine kleine Gruppe von Hochelfen aus Tragant hatte ihrerseits einen Weg nach Mythodea gefunden (man munkelt das dieses Volk schon zu Zeiten der Herrscher den Kontinent besucht haben soll) und das Terrasiegel geöffnet. So kam es, das die Hauptstreitmacht der Siedler, als sie gen Süden zum vermeintlich noch geschlossenen Siegel zog, bereits von untoten Horden empfangen wurde, mit denen seither ein erbitterter Krieg um den südlichen Kontinent tobt. Die legendäre Hauptstadt der Untoten, genannt „Ankor Mortis“ (früher „Terra Ankor“) steht nach wie vor uneinnehmbar und die alptraumhafte Festung Doerchgard, die nur mit größten Anstrengungen der vereinten Siedler, im zweiten Anlauf, eingenommen und geschleift werden konnte, wirkt gegen sie, sagt man, wie eine Sandburg eines Kindes…
(Dieser Text ist eine Abschrift aus der ursprünglichen Wanderbibliothek der Ouai)
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