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Von der öligen Pestilenz

Aus dem Vordruck eines Almanachs, Heroldsdruckerei

Unter dem westlichen Siegel, das als drittes geöffnet wurde, lag Aquas Nemisis. „Ölige Pestilenz“, nannte man sie, doch im Grunde trifft dieser Namen nicht den wahren Kern der Sache, denn er legt nah, das diese ölige Pestilenz tatsächlich nur eine Krankheit, wenn auch vielleicht eine besonders schlimme wäre. In Wirklichkeit ist sie aber viel mehr als das. Sie ist alle Krankheiten. Die schiere Idee von Seuche und Dahinsiechen, der Kern dessen, was jede denkbare Krankheit ausmacht.

Eigenartig erzählt sich die Entstehungsgeschichte des Verfemten „Ölige Pestilenz“, die bis zum heutigen Tage andauert.

Von jeher wurden die Völker der Sterblichen durch so manche Krankheit geplagt, und dahingerafft. Es waren alte und neue Seuchen, die immer wieder von Zeit zu Zeit die Lebewesen plagten. Woher sie kamen, ob sie gesandt waren durch mächtige Herrscher oder Götter als Strafe für ungehorsam oder sündhaftes Betragen, oder lediglich Schicksalsschläge ohne Sinn und Gerechtigkeit waren, wusste man meist nicht. Beides war wohl manchmal wahr. Heiler bemühten sich zu allen Zeiten im Kampf der Wundermittel und Zaubersprüche gegen die Krankheiten zu siegen und die Leiden der Befallenen zu lindern und Leben zu retten. Mit größerem oder geringerem Erfolg.

Einer jener Heiler war in der Zeit der Alten Herrscher der mildtätige Larog Tal. Er wanderte mit seinen Schülern und Gehilfen immer dorthin, wo die Not am größten war, suchte die Kranken auf, die keine Hoffnung mehr hatten, betrat Seuchengebiete aus denen alle anderen flohen und spendete dort den Verzweifelten Heilung. Es hieß, dass es kein Kraut, keine Medizin, keine ärztliche Kunst und keinen Heilungszauberspruch gäbe, den Larog Tal nicht kannte. Er war der größte Arzt Mythodeas.

Doch eines Tages, da stieß er auf eine Krankheit, die er nicht heilen konnte. Eine Seuche war es, die schreckliche unter den Völkern wütete, indem sie ihre Opfer mit schwarzen Beulen überzog, die voller öligem Schleim waren, und in Fieberträumen die unglücklichen dahinsiechen lies.Unzählige starben qualvoll und immer mehr steckten sich an. Es gab kein Heilmittel.

Als alle Kunst nichts mehr half da griff schließlich der verzweifelte Larog Tal zu einem Mittel, das er niemals hätte anwenden dürfen. Sein Wissen über die Natur jedes Lebewesens, und sein Studium der tiefen Geheimnisse des mitrasperanischen Kosmos ausnutzend versuchte er etwas zu tun, das nicht sein konnte in der Welt, das den Gesetzen der Schöpfung zuwider lief.

Die Krankheit selbst versuchte er aus dem Gefüge der Wirklichkeit zu reißen um sie auf einen Schlag und endgültig zu vernichten. Wie genau er es vollbrachte berichtet keine Legende, doch ein Vorhaben gelang; aber anders als Larog Tag gewollt hatte. Dem Gefüge wurde die Krankheit entrissen, doch war sie damit nicht vernichtet, sondern frei. Losgelöst von den Gesetzen und Kräften der Schöpfung, doch noch immer verhaftet in der Realität ihrer Befallenen wurde sie zu etwas Eigenem, einer ständig wuchernden wilden Kraft, ohne eigene Substanz doch ansteckend und in der Lage jeden zu infizieren. So erhielt und nährte sie sich.

Bei dem Versuch eine gewöhnliche Krankheit zu heilen, hatte Larog Tal die Seuche der Seuchen geschaffen, die später nach der Krankheit aus der sie ursprünglich entstand „ölige Pestilenz“ genannt wurde.

Die Pestilenz war Wucher und zielloses Wachstum, Fressen und Vermehrung, Verschlingen und Verschlungenwerden. Als freie Kraft in der Welt war sie zwar kein Teil der ursprünglichen Schöpfung mehr, doch so wie eine Krankheit auch nur in ihren infizierten Wirten existieren kann, und keinen eigenen Körper besitzt, so besaß auch die Pestilenz lange keinen eigenen Weltenraum, also das was die gelehrten eine „Sphäre“ nennen. Vielmehr lebte sie verteilt und verborgen in der Sphäre Aquas, wie der Schmutz auf dem Grund des reinen Ozeans liegt, oder ein Gift, das dünn verteilt, unsichtbar in klarem Wasser lauert.

Jene, die durch die Pestilenz infiziert waren und dahinsiechten, erlagen oft der irregeleiteten Versuchung mit der Seuche eine Art „Pakt“ einzugehen um länger zu leben. Manche unter diesen waren auch von der Idee besessen ein Heilmittel zu finden. Jene bedienten sich Krankheiten, waren Meister der Alchemie und Tinkturen. Sie nannten sich „Biothaumaturgen“ und erschufen in ihrem Wahn zwar manches Heilmittel, doch auch mindestens ebensoviele neue Seuchen.

Der Irrsinn, den die Fieberträume der Kranken in die Traumebene (jene Sphäre der Träume, die unser Geist im Schlaf durchwandert) trugen, verseuchte diese, so das sie stellenweise fast zu einer Alptraumebene wurde. Manche der Infizierten verstanden sich darauf Alpträume zu kontrollieren, die Kräfte des Wahns zu nutzen um Traumbilder und Einflüsterungen böser Art auf diesem Wege zu versenden. Dann aber kam der Weltenbrand und die Ölige Pestilenz wurde im Westen verbannt. Viel Zeit verging.

Nach der Zeit der Versiegelung, als die lange eingesperrten Biothaumaturgen und Traumweber wieder frei gekommen waren, setzten diese ihr Treiben fort. Sie verzeichnen Erfolge: Durch den Verrat des Archons Elkantar und S'lay Nuvensills, durch Unachtsamkeit und Leichtsinn der Siedler und die unermüdliche Arbeit der Biothaumaturgen gelang es der öligen Pestilenz einen teil der Traumebene endgültig zu ihrer eigenen Sphäre, der „Fiebertraumebene“ zu machen. So war der lange Weg von einer sphärisch entarteten Krankheit zu einem echten verfemten Element vollendet. Tödlicher als je zuvor. Die neueste Seuche der Biothaumaturgen vernichtete das gesamte Volk der Linesti. Was mag ihr nächster verderbter Schachzug sein?

Wehe dir, Mitraspera, wenn die Traumweber und Biothaumaturgen eines Tages die Kontrolle verlieren sollten, wie einst Sephistikus über sein Schwarzes Eis. Denn man weiß von damals her: Eine Kraft, frei in einer eigenen Sphäre neigt zum eigenen Willen, und der Bildung einer eigenen Persönlichkeit.

(Dieser Text ist eine Abschrift aus der ursprünglichen Wanderbibliothek der Ouai)