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Von der Naldar-Taktik

Die Luft war kristallklar und eisig kalt. Selbst der letzte Tropfen Wasser schwebte als Schneekristall zur Erde und hüllt nun deren Anlitz in unschuldiges Weiss. Der Schnee glitzerte noch vertäumt im ersten Licht des anbrechenden Tages und es herrschte Stille – Totenstille.
Neruhn’s Atem bildete kleine Dunstwolken, während seine Augen über den einige Meter schräg unter ihm liegenden Weg wanderten. Hier soll es geschehen! Sein Blick schwenkte über seine von einem silbern glänzenden Kettenhemd geschützte Schulter und musterte seine gespannt wartenden Männer und Fraün. Sie waren alles, was ihm noch geblieben ist, denn Jahr für Jahr nimmt die Zahl der Naldar und auch die Zahl seiner Truppen ab. Wie lange werden sie die Siegel noch schützen können? Wie lange werden sie dem immer mächtiger werdenden Schwarzen Eis noch die Stirn bieten können?
Neruhn Sturmreiter wurde aus seinen Gedanken gerissen, denn seine Ohren vernahmen das nahende Klappern von Hufen und das Knarren von hölzernen Speichen. Der lang ersehnte Versorgungskonvoi erschien endlich rechts hinter der Hügelkuppe und bewegte sich gemächlich auf die gut verborgenen Naldar zu. Neruhn presste seinen angespannten Körper gegen den felsigen Untergrund und mahnte seine Männer mit einer kurzen Geste das selbe zu tun. Da war sie wieder, die tödliche Stille, die scheinbar selbst die knurrenden Mägen der Männer und Fraün verstummen ließ.
Das Blut pochte bereits vor Aufregung in Neruhn’s Schläfen, doch er zwang sich noch einige Augenblicke zu warten, während der Konvoi beinahe vollständig an ihm vor überzog. In seinem Nacken spürte er förmlich den heissen Atem seiner etwa fünf Dutzend Mann, die mit lauter bis an den Anschlag gespannter Bögen hinter der Anhöhe im frischen Schnee lagen und darauf warteten ihre Pfeile mit tödlicher Sicherheit ins Ziel zu schicken.
Sturmreiter hob endlich seine Hand.

Nur eine Radumdrehung noch. Die Pferde schnaubten unruhig durch ihre Nüstern, als ihre tierischen Instinkte sich der drohenden Gefahr bewusst wurden. Der Augenblick war gekommen! Neruhn’s Hand schnellte nach unten, und die Stille wurde durchbrochen vom verheissungsvollen Sirren dutzender tödlicher Pfeile die den stahlblaün Himmel durchstreiften. Ein Pfeil bohrte sich tief in die Brust des Kutschers. Und noch bevor sein leblos zusammensackender Körper den Boden erreichte, tränkten die ersten Tropfen Essenz seiner bewaffneten Begleiter den Schnee in dunkles Blau. „Wo war nun eür Sharoun-Ar?“ dachte sich Neruhn Sturmreiter und zerschmetterte das Knie eines Rakh ehe sich dieser bewusst wurde, was eigentlich mit ihm geschah.
Das Schicksal nahm seinen Lauf. Und ebenso schnell, wie alles begonnen hatte, war es auch wieder vorbei. Neruhn wischte im Schnee das Blut von seinem Schwert und blickte auf die bis an den Rand beladenen Karren. „Das wird die Truppen des Schwarzen Eises hoffentlich empfindlich treffen und uns ein, zwei vielleicht sogar drei Wochen Zeit erkaufen, bevor der Verlust ersetzt werden kann.“
Liess er seine Gedanken schweifen und bedeutete den Männern, die Wagen zu entladen.
Kurz darauf zog sich eine Kolonne schwer beladener Naldarianer hinauf zu einer höher gelegenen Stelle im Gebirge und zurück blieb ein Festmahl für die Raben.