Tagebuch - zweiter Brief
Ich bin immernoch sehr verwirrt.Ich kann nicht genau sagen, was genau passiert ist, aber seit dem Knall hat sich alles verändert. Und damit meine ich nicht, dass sich die Landschaft, die schon vorher nicht gerade schön war, jetzt noch einmal zum Schlechten gewandelt hat. Keine Seele ist das, aber vorher konnte ich hin und wieder mal ein Tier sehen, einen Vogel, der, wenn auch zu weit entfernt, als dass ich ihne hätte genau sehen können, über den grauen Himmel flog. Seit ich den Norden verlassen habe, ist da nichts außer mir und dem Keimling, aber so lange ich Nahrung finde und hin und wieder einen Wasserlauf, in den ich ihn stellen und mich waschen kann, soll es so sein, ist es auszuhalten. Aber nun scheinen auch diese wenigen Dinge verschwunden zu sein.
Es begann wie immer, wenn die Erde bebt. Das ist inzwischen nichts mehr, über das ich mich aufrege, ich suche einfach nach etwas, woran ich mich festhalten kann und dann überstehe ich das Schwanken irgendwie. Den Keimling halte ich dabei immer ganz fest an mich gedrückt, er ist mir ein Trost, obwohl ich ja eigentlich ihn schütze. Es tut gut, etwas zu tun zu haben, eine Aufgabe.
Aber an diesem Tag war nichts wie sonst, das konnte ich spüren, als das Wackeln losging. Als würde im Untergrund eins schreckliches Untier erwachen, ein Grollen, Knirschen und kreischen, das mir durch Mark und Bein fuhr. Kaum war es losgegangen, zog mich meine Kiepe nach unten, als hätte man mir Steine hingeworfen. Ich wusste nicht, was geschah und hab sie abgeworfen. Der Keimling kullerte hinaus und blieb neben mir auf dem Boden stehen. Zu diesem Zeitpunkt kniete ich schon und versuchte mich an etwas festzuklammern, aber da war nichts, was so aussah, als könnte es das Geschüttel überstehen.
Ich glaube, ich habe geschrien.
Was mich zu Boden und mein Gesicht in den Staub drückte, habe ich zuerst nicht verstanden, weit und breit war niemand und nichts zu sehen gewesen, trotzdem lag ich mit der Nase im Staub. Dann hörte ich ein Knistern, Rascheln und ich wusste, wer es war. Der Keimling, irgendwas passierte mit dem Keimling.
Ich bin verwirrt und das, was geschah kommt mir vor wie ein Traum, aber als ich den Kopf ein wenig heben konnte, sah ich Äste und Laub, Wie ein Kokon hatte sich der Keimling um mich gewickelt, das Grollen war zu einem dumpfen Grummeln geworden und das Tageslicht war hinter dem grünen Vorhang komplett verschwunden. Stattdessen lag ich in einem Nest aus grünem Licht, das immer heller wurde.
Damals, als ich klein war, legte mich meine Mutter, die Eule, in ein Bett aus Zweigen und Blättern. Wenn ich meine Augenlieder schloss, gab es kurz vor dem Moment, in dem die Welt schwarz wurde, einen Augenblick, in dem die Welt grün war. So ein Moment war es, als mich Zweige und Blätter komplett einhüllten.
Ich konnte hören, dass draußen etwas vor sich ging, aber es kümmerte mich nicht, denn ich wusste, mir würde nichts geschehen. All die Liebe und Zeit, die ich dem Keimling gegeben hatte zahlte er nun zurück, in dem er mir das Leben rettete. Dessen war ich mir sicher.
Meine Erschöpfung war so groß.wie der Friede im Inneren des Nestes und ich kann es kaum glauben, aber ich schlief tatsächlich ein. Ich erwachte, weil die Sonne auf meine Augenlider brannte. Als ich die Augen öffnete, stand der Keimling neben mir, eine kleine Wurzel ragte noch aus der Schale, aber sonst erinnerte nichts daran, dass er mich umschlungen hatte.
Ich konnte ihn wieder anheben, er war leicht wie all die Monate zuvor, in denen er in meiner Kiepe gesessen hatte.
Ich sprach mit ihm, dankte ihm für mein Leben und seither singe ich mit noch mehr Inbrunst und Freude, erzähle ihm die Geschichten, die ich kenne und verspreche ihm, dass ich ihn zu mehr Lebewesen bringen werde, die ihm ihre Leben erzählen können. Wenn wir doch nur schon im Süden wären!
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