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Tagebuch der Libellenkönigin

“Sie haben sie mir gestohlen! Entführt! ENTRISSEN! Wie können sie es wagen? Sie wollen MIR erklären, was Liebe ist? Sie wollen mir eine Hand reichen, mich retten?? Und dann greifen sie nach meinem Herzen und reißen es gewaltsam Teile heraus!? 

Verstehen sie denn nicht? Sehen sie nicht, was ich sehe? Fühlen sie nicht die Liebe, wie ich sie fühlen kann? Wieso sonst würden sie sie mir nehmen? 

Immer wieder und wieder nehmen sie mir jene, die ich zu mir rufe. Sie nennen die Liebe falsch, eine Lüge, aber sie verstehen nicht, wovon sie reden. Der Schmerz, den ich empfinde ist echt. Er lässt sich nicht leugnen- Wie können sie behaupten, dass der Schmerz, der Verlust, den ich empfinde, nicht echt ist?”


“Ich muss mich beruhigen. Ich muss einen kühlen Kopf bewahren. Als Großmeisterin habe ich eine Verpflichtung, meinem Prinzen gegenüber, meinem Orden, meinen Akolythen. 

Die Dynastie wird stets mein Rückhalt sein.”


“Die Melodie des Liedes, das unser Gast spielte, will mir nicht mehr aus dem Kopf. Geschickte Hände hat er, eine gute Stimme und fast tat es mir leid, dass sein Publikum aus Akolythen bestand, die wissen, ihre Emotionen zu kontrollieren. 

Alle bis auf einen. Jener Akolyth war mir bereits vorher aufgefallen. Nicht ganz im perfekten Gleichschritt, seltsam nachdenklich, manchmal wenn er glaubte, niemand beobachte ihn. Ich sah ihn sofort in der Menge, die starr auf den Gast blickte und ich konnte ihn zittern sehen vor Konzentration. Mit aller Macht versuchte er zu unterdrücken, dass er…etwas fühlte. 

Er kam später zu mir. Fiel auf die Knie. Tränen liefen seine Wangen hinab. Er flehte mich an, ihn zu den Korrektoren zu schicken. Er zitterte am ganzen Leib, unfähig zu verstehen, was mit ihm geschah. Er schämte sich für das, was in ihm war. 

Ich sprach zu ihm und bat ihn, sich zu erheben. Er strauchelte, den Blick gesenkt, unfähig, mir in die Augen zu sehen. Ich streckte meine Arme nach ihm aus und kurz nur zögerte er, fast als vermute er eine Falle. Aber dann lehnte er sich nach vorne, in meine Umarmung, die Anspannung fiel von seinem Körper ab. 

Ich spüre in ihn hinein und da, ein sanfter, flackernder Funken. Liebe, Zuneigung, Empathie. Es war wie ein verletzter Vogel, fragil und klein, kaum zu erkennen im Geflecht der Essenz, aber es wärmte mich sofort. 

Ich weiß, was von mir erwartet wird. Aber ich konnte es nicht tun. Ich konnte diesen Akolythen nicht zu den Korrektoren schicken, denn sie hätten ihn zerstört. Ich habe so viel Liebe verloren, so viele Geliebte und Kinder, dass ich es nicht übers Herz brachte, dieses nun auch zu verlieren. 

Also sagte ich ihm, er sollte fliehen. Er sah mich mit großen Augen an, fassungslos, ängstlich – auch das eine Emotion, die er nicht haben sollte. Also wiederholte ich es und diesmal formulierte ich es als Befehl, und offenbar war es das, was er brauchte. Er stolperte los, erst langsam, dann schneller und hektischer, bis er in der Dunkelheit verschwand. 

Ich habe ihm gesagt, er sollte Richtung Westen gehen. Fort von Viria, in der Hoffnung auf Siedler zu treffen, die ihm helfen. Die ihn retten. Ich hoffe, er schafft es.

Ich habe lange noch mit dem Prinzen geredet, in der Hoffnung, ihn zu verstehen, ich respektiere ihn sehr und ich schätze unsere Unterhaltungen, aber er frustriert mich auch zunehmend. Ich weiß, dass er mir Dinge verheimlicht. Er spricht über die großen Dinge mit mir, über Strategien und Zukunftsvisionen. Er schwärmt – ja schwärmt! – von der Zukunft Virias, von den Fortschritten, die die Stadt macht, von der Effizienz seiner – unserer! – Akolythen. 

Aber er schweigt vielsagend, wenn ich ihn auf andere Dinge anspreche. Er schweigt, wenn ich über die Korrektoren reden will. Er schweigt, wenn ich versuche, ihn davon zu überzeugen, dass seine Akolythen Liebe verdient haben. Er schweigt, wenn ich über die schwarzen Diamanten rede, die er von seinen Korrektoren aushöhlen lässt, um sie danach wegzuwerfen. Er schweigt und schweigt und schweigt.”