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Liebster Bruder

wie geht es dir? Hast du mittlerweile die schlimmer Kopfschmerzen in den Griff bekommen, von denen du mir in deinem letzten Brief berichtetest? Ich kann deine Leiden so gut verstehen, die geistigen Anstrengungen auf dem Weg zum Pa-Jolan verlangen einem schier unermessliches ab. Aber glaube mir, es lohnt sich. Bleibe stark, vertraue auf dein Können, dein sich stetig mehrendes Wissen und die Kraft der Elemente und du wirst deinen Weg finden. Und wenn sonst noch nichts geholfen hat, frage Gesimae Sok'wes einmal nach seinem Tee für studierende Köpfe, er hat schon manchen jungen Brüdern und Schwestern, die sich etwas übernommen hatten, zumindest zeitweise Linderung verschafft. Ich denke stets an Dich und hoffe, dass es dir gut geht. Der Anlass meines Schreibens sind die wundervollsten Neuigkeiten. Seitdem ich dir das letzte mal schrieb, ist viel geschehen! Ich erzählte dir ja bereits, dass ich dabei war, die Aufgaben, die an das Ende des ersten Pfad des lernen gesetzt sind, zu absolvieren. Auf den Tag genau vor drei Monden rief mich Gesimae Ritsathon zu sich und teilte mir mit, dass ich bereit sei, den Rang eines Ouai zu erhalten. Noch am selben Tage hab ich auch endgültig meinen Turban abgelegt, denn der Willen ganz im Orden aufzugehen brach sich Bahn und erfüllte mein Herz und meinen Geist mit Macht. Schließlich ernannte mich Gesimae Ritsathon etwa einen Mond danach. Freust du dich für mich? Ich war so unendlich glücklich und dich auch traurig, das ich dich an diesem Tag nicht sehen konnte. Aber mir bleib nur wenig Zeit, um mich an die neuen Umstände zu gewöhnen, denn schon wurde ich aus der Tetragesimae mit einer neuen Aufgabe entsandt! Kannst du dir denken, wie überrascht ich war? Doch ich verhilet mich ruhig und würdig, wie es einer Ouai gebührt. Um mehr zu lernen und andere Perspektiven zu erlangen sollte ich nun Kam'Wah, Träger des Nebelopals, Hüter der Sphären und Bewahrer der Clava Liharquin dienen. Sicherlich hast du schon von ihm gehört und kannst du dir vorstellen, das sich mein Stolz kaum in Worte fasst lässt, liebster Perian. In kürzester Zeit hat sich mein Leben so vollständig verändert. Alles ist so aufregend geworden, seit ich im Dienste dieses weisen und umsichtigen Ca'Jars stehe. Täglich danke ich den Kindern des Goldenen Traumes dafür, mein Schicksal in diese Bahn gelenkt zu haben. Morgen darf ich den Herrn zum Konvent zu Jiratan begleiten, wir reisen zusammen mit der anderen Herren und einer Gesimae, der ich assistieren werde. Zum Zweck dieser Reise werd ich tatsächlich den Titel „Sephor“ erhalten und das als junger Ouai! Eine unerhörte Ehre. Ich hoffe sehr, dass mir alles nicht über den Kopf wächst und ich meine Aufgabe erfüllen kann. Aber es soll mir auch nicht zu Kopf steigen und mich stolz machen, Perian. Wenn wir uns wieder sehen, musst du es mir unbedingt sagen, falls ich mich für zu wichtig nehme. Alles passiert so schnell.

Noch nie bin ich in Jiratan gewesen, kenne nur Geschichten von diesem ganz eigenen Ort, an dem die Kultur der Herrschenden zeitweise die prächtigsten Blüten tragen soll. Der Herr trägt dort den Namen Menethar der kupfernen Räte und ist damit als Berater für die Aphra'Cama des Konvents zu Jiratan tätig. Viele Brüder und Schwestern reisen regelmäßig dort hin. Sie erzählen, dass Herren dort täglich ein und aus gehen und über höchste politische Themen philosophieren, in öffentlichen Bereichen, aber auch auf privaten Wegen. Oft entsenden sie auch ihre Diener, viele sind Ouai, die dort mit ihren Stimmen sprechen und damit manchen Austausch möglich machen, der sonst vielleicht nicht zu Stande gekommen wäre. Sobald ich einmal die Stadt betreten habe, werde ich Die nicht berichten können – nicht berichten dürfen sogar – was ich dort sah, hörte und besprach, wenn ich dort traf und was sich bei diesen Treffen zutrug. Dieses einvernehmliche Schweigen aller Beteiligten, diese gemeinsamen Regeln machen Jiratan zu einem geschützten Ort an dem noch Wort gewechselt werden und vielleicht Verständnis erreichen werden soll, wenn andernorts nur noch die Waffen sprechen. In meinem einfältigen Geist stell ich mir grandiose Ausmaße vor, in denen die Herrscher dort ihre Gedanken frei austauschen, Pläne in Bewegung setzen, aber auch die Grundlagen unserer Gesellschaft betrachten und diskutieren. Allein die Vorstellung wie tiefgreifend solche Gedanken, solche Gespräche sein müssen, macht mich ehrfürchtig schaudern. Wie sonst könnten jene Herrscher die treu den Elementen folgen sich noch jeden austauschen, die sich der Zweiten Schöpfung befleißigen? Der Konvent liegt inmitten eines abgeschiedenen Tals, schicksalshaft in einer tief ins Land gegrabenen Schlucht. Ein Ort, wie gemacht um dort vertraulich über Dinge zu sagen und zu denken, die an anderen Orten Gefahr laufen, von zu vielen Ohren gehört zu werden. Aber vielleicht übertreiben die Brüder und Schwestern auch in ihren Reiseberichten. Wenn sie von Jiratan berichten, disputieren sie so oft über die politische Natur dieses Konvents. Wie politisch ist denn vollständige Neutralität in diesen Zeiten? Was meinst du? Das ist doch ein Thema, mit dem du dich auch schon häufig befasst hast. Ich freu mich so und kann diese Reise tatsächlich kaum erwarten, Perian. Alleine de Gebäude des Konvents und alle die hohen Herrscher! Ich muss mir jedes Detail merken und sorgsam prüfen, dann kann ich dir vielleicht doch ein klein wenig mehr berichten. Verborgene Kammern und hohe Säle, Feuer und Fluchten. Erholung und Zeitweil in den Gärten, der auf den Treppen und Plätzen, erlesene Skulpturen, Apparaturen, Bildnisse und steinernen Schmuck…alles möchte ich aufsagen, in mein Gedächtnis brennen und von der Schönheit zehren, die mir dort begegnen muss. Allein die Vorstellung ihrer Bibliothek! Oh, Perian! Ab, aber eine Sache interessiert mich am meisten, nur wenige Geschichten, nur Gerüchte gibt es darüber, aber es muss wahr sein, denn so etwas kann es nur an einem ort wie Jiratan geben. Scheinbar erlauben die Herrscher es innerhalb des Konvents sogar, dass ihre Ansichten, ihre Politik, nun … Gegenstand wird. Es scheint im Konvent eine Art Bühne geben, auf der die engsten Vertrauten der Herren auftreten, verborgen unter kostbaren Masken und wunderbaren Kostümen, die einem dem anderen gleich machen. In dieser Verkleidung ist es ihnen wohl möglich, ja erlaubt, noch freiere Reden zu führen, sogar offen Kritik zu üben, gekleidet in kunstvolle, schlagkräftige und bestechende Rhetorik, mit Witz und Schärfe versehen, wenn das wahr ist, denk dir nur! Es geht sogar das Gerücht, dass manche der Reden, die die Diener so kunstfertig vorbringen, ihnen von ihren eigenen Herren in den Mund gelegt wurden, die so manchmal sogar ihre eigenen Ansichten verwahren. Welch Redekunst! Welch Inspiration! Ich muss diesen Brief beenden, Perian, ich habe die Zeit vergessen und man ruft nach mir. Schreib bitte bald zurück und berichte mir alles! Erzähl mir, wie es K'Tinka und Sashona geht und ob Pt'Ihijo schon seine Prüfung bestanden hat! Erzähle mir alles, was dir einfällt! Oh ich bin so aufgeregt, bald geht es los Mögen die Winde mit dir sein, so habe ich den letzten Brief noch beschlossen, doch jetzt …

Denk an mich!
Deine Kara