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Der Kreis der Demut

Immer dann, wenn man sich an einem fremden Ort befindet, beginnt man sich Gedanken über seine eigene Heimat zu machen. Gibt es überhaupt einen Ort, den ich als meine Heimat bezeichne, an dem ich mich wirklich zu Hause fühle? So viele Male haben wir über diese Reise gesprochen, doch nun macht sich in meinen Gedanken nur noch eine große Bewunderung breit. Bewunderung über diesen Ort und das, was er über unsere Zeit aussagt. Bewunderung darüber, wie sich die Dinge hier, wie ich mich entwickelt habe. Schließt sich hier der Kreis? „Die Kalten Tiefen“, ein Ort der mit aller Wucht versucht unsere Vorstellungskraft zu sprengen. Aber wie kam es zu dieser Namensgebung? Es handelt sich nicht um einen Ort physischer Kälte. Ganz im Gegenteil: dieser Ort ist gefüllt mit der reinen Kraft Terras. Es scheint ihn immer schon gegeben zu haben und er wird auch noch bestehen, nachdem wir uns durch unsere profanen Wünsche und Bedürfnisse in den Untergang befördert haben. Es gibt an diesem Ort keine Möglichkeit eigene Wege zu beschreiten, es gibt nur die vorgegebenen Gänge und Höhlen und Gestein von solcher Härte dass Enabran sagte, man könne es mit keinem normalen Werkzeug bearbeiten. Vermutlich haben sie den Ort schon so vorgefunden, als sie ihn als Heimat wählten. Ein Heiligtum aus lang vergangener Zeit, errichtet von längst vergessenen Erbauern. Die Ähnlichkeiten sind erstaunlich und lassen unwillkürlich die Frage nach der Herkunft aufkommen. Alles in diesen Gängen und Höhlen gleicht einer lichtlosen Stadt. Ständig fühle ich mich beobachtet und belauert, was mich sehr an meine Heimat erinnert. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr erschließt sich mir nun auch der Name für diesen Ort. Die Kälte, die man dort verspürt, ist nicht physischer sondern psychischer Natur. Das Herz ist es, das sich vor Kälte zusammenzieht. Hier ist jeder von uns unbedeutend - ein Nichts. Terras Macht zeigt sich hier durch das, was wir am meisten fürchten: Größe. Wir fürchten uns vor allem, was Größer oder - anders gesagt - mehr ist als wir selbst. Gerne beugen wir unsere Knie vor Dingen, die älter und erhabener sind als wir. In den „Kalten Tiefen“ zeigt Terra sich als ewig und unbezwingbar. Die Kell Goron haben sich bewusst diesen Platz ausgesucht. Durch die Kraft Terras haben sie stets ihr Ziel vor Augen: Ihre Größe zu steigern. Enabran hat mich an diesen Ort geführt, um endlich voll und ganz in ihre Reihen aufgenommen zu werden. Obwohl es den Meistern der Kell Goron im Blut liegt, sich ständig gegenseitig zu übertreffen, findet man sich hier doch in einer Form von Gemeinschaft wieder. Es wird beraten, es wurden Beschlüsse gefasst und es wird jenes Wissen gesammelt, das sie bereit sind miteinander zu teilen. Für die Kell Goron besteht dieses geteilte Wissen lediglich aus nutzlosen Fakten und Texten, für mich jedoch ist es ein Grundstein. Hier an diesem Ort wird aus dem Zuschauer, dem Mann der immer nur in der zweiten Reihe stand, ein Lenker der Dinge. Ich erinnere mich noch sehr gut an unsere zweite Reihe nach Doerchgardt. Alle Blicke hefteten sich an die vermeintlichen Anführer oder Lenker des Geschehens. Alle, außer die Blicke Enabrans. Seine Augen verweilten auf mir. Er sah mich als das, was ich war. Noch am selben Abend trat er an mich heran und unterbreitet mir sein Angebot. Nach all den Jahren, in denen ich bereits Meister war, würde ich nun also wieder ein Schüler sein. Alles, was mich an die alte Welt gebunden hatte, würde ich hinter mir lassen, um vollständig in die Neue Welt einzutauchen und ein Teil der Ihrigen zu sein. Und so schließt wohl auch der Kreis… Nun, da wir hier sind, zeigt sich Enabran anders als erwartet. Das Ziel des „Raben“, wie er sich selbst nennt, ist es, die verstreuten und zerstrittenen Kell Goron-Meister zu einem Bund zu formen. Ein Kreis der Macht, aber natürlich unter der Führung des „Raben“ - was für eine lächerliche Namensgebung! Allerdings zeigt Enabran weitere Eigenarten, die mir missfallen: Sämtliche Treffen finden maskiert stattoder man beschränkt sich auf Briefwechsel oder verschlüsselte Botschaften. Ich hatte dem „Raben“ vielleicht etwas zu spöttisch vorgeschlagen, dass man doch eine Methode erforschen könnte, um den Geist vom Körper zu trennen, um künftig völlig unerkannt auftreten zu können. Nun sitze ich seit Tagen über alten Forschungsberichten aus Tin'Doriel, die sich mit Gerätschaften befassen, die so klangvolle Namen wie „Helikaler Spährenkollabierer“ tragen. Wir werden in einigen Monaten in der Lage dazu sein, Geist und Körper wie Hand und Handschuh zu behandeln. Enabran selbst hat seit unserem ersten Treffen nur zweimal persönlich mit mir gesprochen. Ich frage mich ernsthaft, ob er überhaupt noch meinen vollen Namen kennt.