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Die zweite Reise in den Süden

Alnock berichtet

Terra ist fort. Das Element, das mich bis in mein innerstes durchdringt, wurde unter dem verfemten Siegel des Argus eingesperrt. Der Avatar, Bundschwester erst seit wenigen Stunden, musste vergehen. Der Süden scheint verloren.

Der Kantor, ein treuer Freund und Weggefährte, ein Lehrer und auch ein Zweifler, ist gefallen. Und Viele teilten sein Schicksal.

Thorus lag im Sterben, doch er kehrte zurück. Ich ahne den Grund, und es betrübt mein Herz, dass die Umstände dagagen sprechen, dass Glück aus dieser Sache entspringt.

Ich selbst lag im Sterben, durchbohrt von Pfeilen, die den Nyamen zugedacht waren, Siobhán und Tiara Lea, doch ließen sie mich nicht gehen.

So vieles ist verloren. So vieles mehr, so fürchte ich, werden wir noch verlieren. Die Wege Terras, neue Heimat von Skarr und der Rotte. Der Süden. Vielleicht das ganze Land.

Lange Zeit war in mir nur Verzweiflung, doch nun beginnt sich unter der Oberfläche zu regen, was Terra in mir sah an jenem ersten Abend vor Jahren: Der Fels. Ich weiß nun, dass es gut war, dass ich nicht gestorben bin. Ich habe noch Aufgaben zu erledigen, bevor ich gehe. Wenn ich schon nicht leben will in einer Welt ohne Terra, so will ich auch nicht in einer solchen sterben.

Und so mache ich weiter. Verletzt und furchtsam, sicherlich. Aber auch voll von einer stetig wachsenden Entschlossenheit.

Schon beginnt vieles von dem zu verblassen, was ich auf der zweiten Reise in den Süden erlebte. Einiges werde ich nie vergessen, zu sehr eingebrannt ist es in meine Erinnerungen. Anderes schwindet schon jetzt in meinen Erinnerungen. Doch weil nicht vergessen werden darf, weil das Vergessen die Waffe der Viinshar ist, weil die Kunde verbreitet werden muss, schreibe ich diese Zeilen nieder, um sie weiter zu geben.

Den Gardaí werde ich sie vorlesen. Und vielleicht lasse ich Kopien machen, die ich in den Dörfern des Westens verlesen lasse. Diese Welt ist dunkler geworden. Wir haben eine schlimme Niederlage hinnehmen müssen. Die Bewohner des Westens haben ein Recht zu erfahren, wie es dazu kam. Und was es bedeuten könnte. Und was wir tun müssen.

Wir erreichten Dunkelwacht an einem Tag, der schlechtes Wetter in den kommenden erahnen ließ. Das, was als große, vereinte Armee auf die Festung des Untods losziehen sollte, war aufgrund von nichtigen Reibereien in verschiedene Lager zerfallen. Die Naldar lagerten getrennt vom Luftlager, jedes Element hatte wie schon in vergangenen Zeiten ein eigenes Lager. Der Tross lagerte abseits, nahe denen, die ihre Freiheit über die Elemente setzten. Auch die Orks lagerten abseits. Und schließlich kam das so genannte große Heer, Nordleute wohl, und schlug sein Lager in direkter Sicht auf den Feind auf. Wir waren zerrissen, und Doerchgaard (oder wie immer sie es schreiben), die Feste der Verfemten, lag stark und dunkel inmitten der Ebene.

Noch wähnten wir uns in der starken Position, in der des Angreifers, der gekommen war, um Doerchgaard im Namen der Elemente und der Siedler zu nehmen und zu schleifen, dabei gleichzeitig die Ablenkung zu bilden, die die Naldar brauchten, um hinter dem Rücken des Feindes ein von Kräften entblößtes Ankor Mortis anzugreifen.

Doch noch bevor wir uns überhaupt geordnet hatten, bevor wir auch nur aufmarschieren konnten, um den ersten Streich zu führen, setzte Argus seinen perfiden Plan um. Argus, der der Sharun'Ar war und ist, der vormals als Fileas Strongbow mit Paolo Armatio den Weg nach Mythodea gefunden hatte, spielte seinen Spielzug, mit dem all unser Trachten und Wollen bis zu diesem Punkt nebensächlich wurde.

Wir alle hatten uns die Festung schon angesehen, von sicherer Entfernung aus. Die äußere Verteidigung war eine hohe, aber dennoch nur hölzerne Palisade. Dahinter, wohl dreißig Schritt von der ersten entfernt, erhob sich eine zweite Wand, fest gefügt aus Stein.

Es war dunkel, als uns ein großer Lärm und unheimliche Geräusche erneut zur Festung riefen. Argus war dort, aber ich konnte ihn nur hören, nicht sehen, da ich an Siobháns Seite weit hinten stand. Die, die vorne standen, konnten nicht weiter, denn eine magische Barriere versperrte ihnen den Weg.

Das, was Argus dort tat, war schrecklich und verwerflich, und noch immer fehlen mir die Worte, meine Gefühle dabei zu beschreiben. Der Avatar Aquas war bei ihm und der Avatar Aeris’. Was sie dort machten, wie sie dorthin gekommen waren, ich weiß es nicht. Argus jedenfalls bezwang sie beide. Er opferte den Avatar des Wassers, tötete, vernichtete ihn und nutzte die Kraft, die dabei frei wurde, um etwas zu tun, was ich nie für möglich gehalten hätte: Er schuf sein eigenes Siegel.

Während sich der Leib des Wasser- Avatars über uns ergoss wie ein eiskalter Sturzbach, während sich meine Eingeweide zusammen krampften und die Herrin des Westens an meiner Seite anfing zu toben, jemand müsse doch etwas tun, erschuf Argus sein eigenes, verfemtes Siegel. Ein Siegel, um Terra einzuschließen. Ein Siegel, um Terra vom Angesicht Mythodeas zu bannen. Ich kann nicht ausdrücken, was ich empfand, während die Stimme Argus’ über den Platz vor der Festung erschallte, als er seine Schwester, Fileas’ Schwester Lisa Strongbow zur Nyame und An’nai, den Neches’Re des Südens, zum Archon des neuen Siegels ausrief. Es fehlen mir die Worte zu beschreiben, welche Gefühle in mir tobten, während er Aeris’ Avatar unterwarf und versklavte. Es fehlen mir die Worte auszudrücken, was in mir vorging, während er uns vor der Festung verhöhnte, die Elemente schmähte.

In der gleichen Zeit, die ich gebraucht hätte, um ein paar Eier zu braten, hatte Argus den Avatar des Wassers vernichtet, den der Luft versklavt, Archon und Nyame ausgerufen und sein eigenes Siegel geschaffen, unter dem er das Element, dem mein Herz folgt, einsperren wollte.

Der Avatar der Erde brach zusammen. Terra konnte nicht atmen, flehte um Hilfe, wäre vielleicht gestorben, wenn nicht ihre Anhänger ivon ihrer Kraft gegeben hätten. Im Sturm brachten wir Terra in ihr Lager, aber noch immer war sie mehr tot als lebendig. „Wir sind alle verraten worden“, sagte sie, und dass sie auf dem verfluchten Boden in der Nähe des verfemten Siegels nicht atmen könne. Sie wies uns an, den Boden im Lager zu weihen, Kreise zu bilden aus allem, was mit Terra verbunden war, und dies taten wir. Reisig, Stroh, Seil, frische und alte Zweige, Blumen, Erde, Steine, aus all diesem bildeten jene im Lager Terras Kreise, lobten und preisten das Element überall im Lager, und langsam begann sich eine Wirkung zu zeigen. Terras Avatar war fürs Erste gerettet, doch konnte sie nicht hinaus. Außerhalb des Lagers war der Boden für sie zu einem Feind geworden, den Verfemten zueigen, nicht mehr ihr selbst.

Zum Glück war sie nicht allein auf diesen Feldzug gegangen. Seltsame Wesen, an Menschen erinnernd aber auch an Fels, schützten sie. Wie ich später erfuhr sind es tatsächlich Menschen, die unter der Erde eingeschlossen waren und hätten sterben müssen, hätte Terra sie nicht wundertätig gerettet. Zum Dank haben sie ihre Leben der Erde gewidmet.

Auch war bei Terra ein seltsames Wesen mit den Beinen eines Widders, ein Faun wohl, den Terra ihren Spross nannte. Sein Name ist – wenn ich mich richtig erinnere – Cyanus.

Die Wächter und der Faun boten ihr Trost in den Tagen, die da kommen sollten, doch nur die gemeinsamen Anstrengungen von Tiara Lea und Siobhán, den Nyamen von Osten und Westen, hielten Terras Avatar am Leben. Jeden Morgen gaben diese beiden jener Kraft, und hinterher war Siobhán jedes Mal der Ohnmacht nahe, so viel gab sie oder wurde ihr genommen. Die Nyame des Südens weilte nicht bei uns, und die des Nordens habe ich nicht gesehen, bis dieser Feldzug schon weit fortgeschritten auf dem Weg in unser Verderben war.

Doch ich eile der Geschichte voraus. In dieser Nacht noch besuchte ich an der Seite und als Schutz unserer Nyame viele Lager. Überall war die Stimmung fürchterlich. Die Siedler waren wie vor den Kopf geschlagen, geschockt, beinahe gelähmt. Zwar bekämpften sie die Untoten, die in kleineren Trupps den Bereich durchstreiften, mit Verbissenheit und Mut, aber abseits dieses Versuchs, der eigenen Wut und Hilflosigkeit ein Ventil zu schaffen, vermochten sie keinen klaren Gedanken zu fassen. Zu groß war der Schreck, den uns Argus bereitet hatte, zu groß die Erschütterung über die Ereignisse und die Leichtigkeit, mit der er sie bewerkstelligt hatte.

Ein erster, empörter Ansturm gegen die Verteidigung der Festung Doerchgaard war es meiner Meinung nach, der ergab, dass die Palisade und Mauern geschützt waren. Argus hatte seine eigenen Banner der Macht erschaffen, verbunden mit seinem verfemten Siegel, und die Macht der Banner schützte die Festung.

Dann kamen die Kell Goron. Eigentlich suchten sie nach Skarr, der Malaka’Re. Wir waren nur zufällig in der Nähe und wurden aus diesem Grund Zeuge der Dinge, die sie zu sagen hatten. _

Ich habe vor zwei Jahren gegen einen Kell Goron gekämpft, in den Gängen unter der Erde. Er war ein hässliches, bösartiges Geschöpf, und so habe ich alle ihres Volkes eingeschätzt.

Die beiden, die an jenem Abend ins Erdlager kamen, waren anders. Hässlich und gezeichnet, ja, aber nicht offen bösartig. Warum kamen sie? Genau vermag ich es nicht zu sagen. Da sie gezielt nach der Malaka’Re gesucht hatten, nehme ich an, dass sie etwas von ihr wollten. Die beiden hochgewachsenen Gestalten spielten ihr Spiel geübt. Sie beklagten sich bei Skarr, wie ihre Andersartigkeit sie zu Außenseitern machte. Natürlich konnte die Rotte dies nachvollziehen, denn ihr ging es ja ganz genau so. Alsbald drückten sie ihr Bedauern darüber aus, dass die Malaka’Re von Kell Goron in den Gängen der Erde angegriffen und fast getötet worden war. Sie stellten es so dar, dass diese Gänge seit Äonen nur von ihnen genutzt und die besagten Kreaturen niedere, mit wenig Geist ausgestattete Diener waren. Nach ihrer Darstellung war das alles nur ein großes Missverständnis, das sie gerne aus der Welt schaffen wollten. Und dann folgte ihr Vorschlag, man könne doch Karten über die Gänge austauschen: Skarr könnte die über die Wege Terras heraus geben, dafür würde sie die erhalten, die das Gebiet beschrieben, das die Kell Goron beanspruchten.

Ich kann nur hoffen, dass ihr Instinkt, ihre feine Nase und die ihr eigene Vorsicht Skarr am Ende vor dem Einlenken bewahrt haben.

Die Kell Goron waren in meinen Augen stets diejenigen unter den Quai, die sich vollends den Verfemten oder dem Eigennutz zugewandt hatten. Diese beiden jedoch bestanden darauf, dass sie allen zehn Elementen folgten und sich von den Quai nur in der Wahl ihrer Mittel unterscheiden würden. Wo die Quai endlos reden und nicht handeln würden, da handelten die Kell Goron angeblich. Nun, vielleicht ist es tatsächlich so, doch ich misstraue diesen Gestalten mit ihren Pocken und Narben im Gesicht. Für mich wirkten sie zu sehr wie Gestalten, die sich der Pestilenz verschrieben hatten.

Die beiden eröffneten uns auch, dass die Banner sie gerufen hatten, dass sie diesem Ruf folgen mussten. Sie versuchten uns Glauben zu machen, dass die Regeln des Spiels sie unweigerlich bänden. Um die Feste zu besiegen, so deuteten sie an, mussten die Banner errungen werden, die Argus an der Palisade aufgestellt hatte, denn ihre Macht schützte die Palisade. Für die Prüfungen aber brauchten wir sie, denn ihrer Aussage zufolge würde kein Quai kommen, wenn sie bereits da waren.

All dies mag wahr sein. Doch warne ich Euch, Euch vor ihnen zu hüten. Nur, weil sie uns den einen oder anderen winzigen Gefallen getan haben, sind sie noch lange keine Freunde. Vielleicht war es nur ihr Bestreben, die Pläne der Malaka’Re zu bekommen, um in Terras Abwesenheit die Herrschaft über ihre Wege an sich reißen zu können. Mir graut vor der Vorstellung, was sie anstellen könnten, wenn ihnen dies gelingt. Sie könnten den gesamten endlosen Heerrwurm bis vor die Tore von Grian Quihenya führen.

Zu diesem Zeitpunkt jedoch brauchten wir sie, ungeachtet der Tatsache, dass sie Jagd auf jene machten, die sich als Schüler der Quai kenntlich gemacht hatten. Ohne sie gäbe es keine Jagd nach den Bannern der Macht, ohne Jagd nach den Bannern keine Schwächung der Verteidigung der Festung.

Die Questen, die die Banner auftrugen, waren von den Verfemten gestellt. Sie waren bösartig und grausam. „Vergifte ein Lager“ „Baue Fallen vor die Tore eines jeden Elementlagers“ „Finde eine Seele für jedes der alten Elemente, das diesem folgt, und opfere sie“

Und die Siedler, die gewillt waren, für Terras Freiheit diese Questen anzunehmen, lasen die Questen und verzweifelten. Denn wie konnten sie die bleiben, die sie waren, wenn sie diese Aufgaben angingen.

Terra selbst aber sagte, dass es der einzige Weg sei. Wir konnten die Questen lösen oder sie verlieren.

Es war Siobhán, deren wacher Geist eine Lösung ersann. Ich hätte sie küssen mögen, als sie dem ersten Siedler, der mit Kummer im Blick und Verzweiflung in der Stimme zu ihr kam und klagte, diese Questen könne er nicht angehen, für jede der Questen eine Lösung nannte, in dem der Buchstabe der Queste erfüllt, aber ihr Geist umgedreht wurde. Gift muss nicht töten. Fallen müssen nicht ausgelöst werden. Seelen müssen nicht die von Siedlern sein. Auch Mäuse, Libellen, Fische, Vögel und Feuersalamander haben Seelen, und welche zu finden, die bereit waren, sich zu opfern, konnte nicht gar so schwierig sein.

Aber es gab auch schwerer zu knackende Nüsse. Töte S’Ley Nuvensil.

Da gab es nichts zu missdeuten, keinen Trick zu nutzen. Und S’Ley, die Frau von Klais Windbringer, war im hohem Maße schwanger. Wer tötete schon eine hochschwangere Frau, noch dazu die Gattin eines der angesehendsten der Naldar, im Sommer nach dem Tod von Neruhn? Doch davon später mehr. _

Vieles habe ich vergessen zu berichten über all die Schrecken hin, die sich viel tiefer eingebrannt haben in mein Gedächtnis als die anderen, die guten Dinge, von denen ich aber jetzt berichten will.

Noch vor den bisher beschriebenen Dingen trat im Lager Terras der Tag der Höchsten zusammen. Tuachal von den Kelten stellte dafür seine Halle zur Verfügung, ein Ort, der noch viele Male ein Platz für Versammlung auf diesem Feldzug werden sollte. Tuachal zu danken ist mir nicht mehr gelungen, doch will ich ihn hier rühmen für seine Gastfreundschaft.

Der Tag besprach sich zum Thema des Archon. Viele Siedler waren vertreten: Die MacNamara, die MacManner, die Kironier, die Römer der zehnten Legion, die Val Shianna, die Sechs Winde. Lediglich die Achenar fehlten von denen, die den Feldzug begleiteten, und dies war ein Fehler, der noch ein schlimmes Ende haben sollte. Ich hatte mir vorgenommen, Maedhbh zu vertreten, so gut es mir möglich war, da sie ihre Schwester auf diesem Feldzug nicht begleiten konnte. Sie hätte es nicht übersehen, da bin ich mir sicher, und so mache ich mir Vorwürfe ob meines Versäumnisses. Manches hätte einen anderen Ausgang nehmen können.

Der Tag jedenfalls war sich einig, dass Ker'jac als Archon nicht mehr tragbar war, dass der Westen einen neuen Archon bräuchte. Zunächst suchte man in der Runde nach einem geeigneten Kandidaten, doch es fand sich keiner. Da die Elemente die Nyame hatten wissen lassen, dass es Zeit wäre, einen neuen Archon zu suchen, verkündete sie es von dieser Stunde an in allen Lagern und bat alle Bewerber, bei den Avataren vorzusprechen. Vielleicht trübt mich meine Erinnerung auch, und sie tat dies erst später, als klar war, dass Ker'jac den Posten des Archons verwirkt hatte und der Westen tatsächlich nicht nur keinen anwesenden, sondern überhaupt keinen Archon hatte.

Ich greife schon wieder vor, doch möchte ich hier von Collin MacCorribh berichten, der ein entfernter Verwandter der Nyame ist. So zumindest habe ich es verstanden. Ihre Familie und seine sind in der Sippe der MacNamara vereint. Ich habe ihn schon im letzten Sommer kennen gelernt und mag ihn. Er behauptet, ein Spottbarde zu sein, doch sah ich ihn häufiger mit Rüstung, Schild und Schwert denn mit Laute. Dieser Collin jedenfalls beschloss, sich den Prüfungen zum Archon zu stellen. Er war es leid, den Westen ohne Archon zu wissen, der auch für den Westen da ist. Das ist wohl der Hauptgrund, und weil er sagt, was er denkt, dass die Siedler des Westens ihn von da an rückhaltlos unterstützten. Leider gelang es ihm nicht, die Prüfungen zu beenden, doch von den Bewerbern ist er der einzige, der von den fünf Prüfungen vier bestanden hat, so sagte man mir. Collin wird jedenfalls bis auf Weiteres an Archons statt agieren. Er hat noch nicht die Macht, die das Land dem Archon schenkt, aber er will versuchen, sich so gut es geht in die Rolle einzufügen. Jeden, der dies liest oder hört, fordere ich auf, diesen Mann nach besten Kräften zu unterstützen. Schon jetzt ist er dem Westen mehr Archon, als es der Ork jemals war. Und meiner Meinung nach können wir uns kaum jemanden wünschen, der noch besser zu uns passt.

Nach der Versammlung des Tags wanderten wir irgendwann zu den Khironiern, die zu einem fröhlichen Beisammensein geladen hatten. Wir waren im Krieg, daher war die Zeit fröhlichen Beisammenseins viel zu kurz, doch die Khironier tischten Suppe und Gegrilltes auf, und das nicht schlecht. Nach den ersten Löffeln ihrer kräftigen Suppe merkte ich erst, wie hungrig ich war.

Lob muss den Khironiern ausgesprochen werden für vielerlei Dinge: Für ihre hervorragende Suppe, die fast an die von Liam heran kam, der der beste Koch ist, den ich kenne. Dafür, dass sie die wundervolle Faryanne hervorgebracht haben, die trotz all ihrer Zweifel auf diesem Feldzug so sehr gewachsen ist, dass sich neuerdings die Bäume hinter ihr verstecken können. Und für den Dienst, den sie in langen Tagen und Nächten der Nyame geleistet haben. Im Feindesland war die Nyame noch gefährdeter als sonst. Und auch wenn mich der junge Torge Rothgard begleitete, der Lehrling der Gardaí, auch wenn Siobháns Lehrer, der Magier Malakin oft an unserer Seite weilte, war mir doch etwas mulmig bei dem Gedanken, sie mit so wenigen schützen zu wollen. Die Khironier sprangen sofort und mit einer Begeisterung in diese Bresche, die mich überwältigte. Ich bin sicher, jeder der Siedler des Westens hätte mit Freuden Krieger abgestellt, um den Schutz der Nyame zu gewährleisten, doch die Khironier waren die ersten, und sie ließen sich diese Aufgabe auch nicht mehr aus den Händen nehmen. Berengar Baron Werresheim begleitete uns mehr als einmal selbst und hatte die Großzügigkeit, sich meinem Befehl zu unterstellen. Erst jetzt, da ich dies schreibe, bekomme ich eine Ahnung davon, wie ungewöhnlich das ist. Die Khironier haben auf diesem Feldzug der Nyame einen großen Dienst erwiesen, haben sie mit ihrem Leben geschützt, für sie geblutet und jedes Lob mehr als verdient, das ich ihnen aussprechen kann.

Das gleiche gilt für den jungen Torge. Unermüdlich war er, rannte seine Füße blutig, aber hielt aus, ohne zu jammern. Nur das morgentliche Aufstehen fiel ihm nicht immer so leicht. Aber da, wo mein Körper mir eines Nachmittags den Dienst versagte und ich mich zur Ruhe legen musste, übernahm er den Schutz Siobháns und schaffte es irgendwie, sie aus einer Schlacht heraus zu bekommen, in deren Mitte sie sich überraschend wieder gefunden hatten. Ich fühlte, das etwas nicht stimmte, aber als ich mich angezogen und ausgerüstet hatte, da war sie schon bei den Heilern. Sie war verletzt worden, doch in dieser Lage hätte sie getötet werden können, und das sie noch lebt, verdankt sie nicht zuletzt dem jungen Torge.

Ich möchte Torge unbedingt im Westen halten, bei mir und bei denen, die die Nyame schützen. Noch weiß ich nicht, was ich ihm anbieten kann, abgesehen von der Mitgliedschaft bei den Gardaí, die er sich hundertfach verdient hat.

Aber mir wird schon etwas einfallen. _

Es ist lange her, dass ich dazu kam, hier mehr zu schreiben. Zu voll sind meine Tage, zu viele Dinge habe ich zu erledigen und zu oft bin ich nicht in der Lage dazu vor Kummer.

Doch es gibt Dinge, die auch Hoffnung machen: Terra ist nicht vergessen, und Hilfe findet sich manchmal an Orten, an denen man sie nicht erwartet.

Jetzt, da ich meine Zeilen, die ich bisher verfasst habe, noch einmal gelesen habe, wird mir klar, dass diese Erzählung nicht wie ein stetiger Flußlauf laufen kann. Zu Vieles ist geschehen, und zu viel Zeit vergeht zwischen den Gelegenheiten, hier mehr zu schreiben.

Also will ich durch die Ereignisse springen wie ein Grashüpfer, von einer Geschichte zur nächsten, auf dass Du, der Du dies liest oder hörst, durch die Aneinanderreihung der kleinen Geschichten die große verstehst.

Heute muss ich von Aeris berichten. Schöne, weiße Aeris. Und was ihr widerfuhr.

Sie war bei ihren Kindern, den Naldar, als ich sie das erste mal sah, nach den Ereignissen, die den Avatar des Wassers sein Leben kosteten. Auf den ersten Blick wirkte sie wie immer: Stolz und frei. Doch auf den zweiten entdeckte man Dinge an ihr, die man nicht dort vermuten würde: Sie trug ein Mieder, das den Rüstungen der Viinshar nicht unähnlich war, und Dolche nach deren Machart. Ihren mächtigen Bogen jedoch sah ich nicht. Und sie war - verändert. Voller Wut.

Ein paar Wachen hatten am Lager der Luft Dienst, die dort in völliger Unkenntnis der Gegebenheiten auf Mythodea hingestellt worden waren. Um eine lange Geschichte, bei der ich nicht dabei war, kurz zu machen: Diese Wachen hatten der Nyame des Ostens den Eintritt ins Lager verwehrt. Tiara Lea, auf der Suche nach Beistand von Seiten der Naldar, berichtete Aeris davon. Und Aeris zog los wie die sprichwörtliche Furie. Sie ging diese Wachen hart an, mit Worten zwar, aber mit solchen, die verletzen sollten.

Hinterher sagte Siobhán traurig Worte, die ich nicht vergessen werde und die besser als alle, die ich selbst finden kann, beschreiben, wie es um den Avatar der Luft stand: Sie haben Aeris das genommen, was ihr am Wichtigsten ist: Ihre Freiheit.

Und unfrei war sie. Zwar wehrte sie sich und hatte Phasen, in denen sie selbst war, dann aber schien sie dem Wahnsinn zu verfallen und war voller unberechenbarem Zorn.

Schon wieder ruft mich die Pflicht. Ich werde versuchen, diesen Teil der Erzählung morgen zu beenden. _

Aeris. Von ihr berichtete ich am gestrigen Tage, und von ihr will ich heute berichten.

Sie war unberechenbar in jenen Tagen im Süden. Im einen Moment unterstützte sie die Siedler, weilte bei ihren wundervollen Kindern, den Naldar, im nächsten gebärdete sie sich wie toll, griff Siedler und selbst Naldar an. Es war, als ringe ihr Selbst um seine Freiheit, nur um nach jedem Erfolg erneut in die Dunkelheit und Bosheit gezogen zu werden.

Ich selbst war dabei, als die Viinshar sie holten. Ich selbst war dabei, als Aniesha Fey sie aus dem Kreis ihrer geliebten Naldar hinfort lockte, sie verführte mit Worten von Macht und der falschen Freiheit, ohne Gewissen tun zu dürfen, wonach es ihr verlangte.

Und stark war die Herrin der Töchter. Zuvor habe ich erleben müssen, wie sie meinen Geist bezwang, den Geist eines einzelnen Mannes. Nun aber war es, als wäre ihre derartige Kraft ins Riesenhafte gewachsen. Auf eine Geste hin, eine beinahe gelangweilt wirkende Geste, verstummten die Naldar, verstummten die Siedler, verstummten Nyamen und Archonten, die zuvor mit aller Hingabe und aus vollen Lungen für den Avatar der Luft gebrüllt hatten. Die Rufe, die sie priesen und die sie erinnern sollten an das, was sie wirklich war, brachen ab. Niemand im Kreis von wohl Zweihundert vermochte es noch, einen Muskel zu rühren. Wir alle waren gezwungen, das grausige Schauspiel zu betrachten und dazu zu schweigen. Und jeder, der nachträglich dazu kam, verfiel dem gleichen Bann.

Aniesha nahm Aeris mit, zog sie näher zur Leere, entzog ihr mehr von sich selbst. Fast schien sie selbst eine der Töchter zu werden in jenen Momenten, als sie davon schritten, kurz bevor sie alle für unsere Augen verblassten. Eine schlanke weiße Frauengestalt unter Vielen.

Naldar und Siedler stürzten sich auf die Aufgabe, ihren Avatar zu befreien. Eine wichtige Aufgabe, aber eine, die wichtige Kräfte band, die nicht zur Verfügung standen, um Terra zu helfen.

Ich mache niemandem einen Vorwurf. Weder den Naldar, noch den Siedlern, die sich der Rettung Aeris' verschrieben. Wie soll ich einen Leomir Greifenkind verurteilen für die Dinge, die er aus Liebe zu seinem Element und seinem Avatar tat? Und mit Leomir warf sich der Stählerne Stern in diese Angelegenheit, dessen Wissen um die Dinge in Mythodea außerordentlich ist.

Viele Dinge mussten getan werden. Schwere Dinge.

In der Zwischenzeit wechselte Aeris ständig die Seiten. Mal schritt sie an der Seite der Viinshar und verbreitete Schrecken unter den Siedlern, dann war sie wieder bei ihren Kindern und schenkte Trost und Kraft.

Einmal kam sie ins Erdlager. Sie war sie selbst und sprach mit Terra, doch dann tauchten zwei Töchter der Leere auf und versuchten, sie fort zu locken.

Terra war schon zu geschwächt, um zu helfen. Aeris verfiel mit dem Auftauchen der Viinshar dem Wahn.

Es war Siobhán, die sich ihr in den Weg stellte, die sie aufhalten, zurück halten wollte. Und Aeris zog ihre Dolche der Leere und hielt sie der Niame an die Kehle. Mit irrsinniger Fröhlichkeit in der Stimme drohte sie, Siobhán zu töten.

Hätte ich in diesem Moment eine Möglichkeit gesehen, den Avatar der Luft zu töten, ich hätte es getan. Doch ich sah keine, und Siobhán war in der Hand des Avatars. Doch Aeris ließ ab von ihr und tanzte an der Seite der Viinshar davon - nur ließ Siobhán es nicht zu.

Ihre Macht war es, die die Töchter der Leere vertrieb. Mit ihrem Willen jagte sie sie davon. Und sie flohen vor ihr. Und dies erst machte den Weg frei für uns, den Avatar der Luft wieder zurück zu holen, wieder zur Besinnung zu bringen.

Denk an Deine Kinder! Erinnere Dich an die Naldar! rief ich immer wieder. Doch den wirklichen Erfolg verbuchten wir, als wir uns einem Ork anschlossen, der ein fröhliches Lied gröhlte, zum Rythmus stampfte und klatschte. Frohsinn und Spiel, das waren die Waffen, die die Leere verdrängten und Aeris zurück brachten zu sich selbst.

Mein Herz war voller Jubel, und für einige Momente fühlte ich mich großartig. Wir hatten, wenn auch nur auf Zeit, die Herrin der Winde den Verfemten entrissen.

Sie und Terra setzten sich zu uns, und wir nötigten beiden Speise und Trank auf.

Die Gestalt mit der Kapuze stand wie hingezaubert zwischen unseren Zelten, nur einen Schritt von Siobhán entfernt. Es war keine Zeit, eine Waffe zu ziehen. Ich konnte nur noch den einen Schritt nach vorne tun, um ihr den Weg zu versperren. Mit meiner Hand auf ihrer Brust blieb die Gestalt stehen und schlug ihre Kapuze zurück.

Es war An'nai, der der Neches'Re des Südens war und sich nun Archon des neuen, des Verfemten Siegels nannte.

Seine Worte waren in beißendem Tonfall gesprochen und an Siobhán gerichtet. Mich und mein furchtsames Zürnen schien er gar nicht wahr zu nehmen.

Er lud sie ein, ihn doch einmal in er Festung zu besuchen. Für mich klang es wie Hohn, wie der Versuch, sie gleichzeitig zu erniedrigen, zu verspotten und sie in eine Falle zu locken.

Doch ich irrte mich in ihm. Erneut. _

Nach dieser „Einladung“ ging er, und Siobhán tobte eine Weile vor Wut. Sie war sehr blass. Wie angegriffen sie war, bemerkte ich dadurch, dass sie mich mit Wut in der Stimme anfuhr, wie er sich unbemerkt so weit hätte nähern können. Es war keine Frage. Es war ein Vorwurf. Ihre Ruhe zerbröckelte. Und meine ebenfalls. Der Feind bewegte sich frei in den Lagern, und wir kamen keinen Schritt weiter beim Versuch, seine Feste zu nehmen. Die Ahnung machte sich breit, dass wir verlieren könnten.

Ich bin mir nicht sicher, ob alles, was ich jetzt aufführe, damit zu tun hatte. Manches mag andere Hintergründe haben. Irgendwie gab es jedoch einen Weg, der vielversprechend war, um Aeris’ Avatar zu befreien. Und es gab einen anderen, mit dem man ihn hätte töten können, bevor es zum Schlimmsten kam.

Ich erinnere mich daran, dass Neruhns Schild wieder zusammen gefügt werden musste. Ein Seil, welches ich Klais Windbringer von den Naldar geschenkt hatte, als kleinen Dank für seine Hilfe und seine Kleidung in Steinbrück, wurde dafür benutzt. Die restlichen Tore der Aeris mussten gereinigt werden. Eine Kette musste Aniesha Fey abgenommen werden. Diese Kette, gefertigt von einem Nophobos der Leere, wurde im Lager der Naldar im Schrein Aeris zerstört. Es gab noch andere Aufgaben, aber ich habe vergessen, welche.

Ich bin nicht sicher, ob Naldar und Siedler am Ende erfolgreich waren. Ich sah den Luft-Avatar, nachdem die Kette zerstört worden war von den Priesterinnen der Naldar, von Siobhán und Bheal, von Asmodan vom Stählernen Stern und anderen. Aeris wirkte heil auf mich, ganz.

Aber dennoch hörte ich Gerüchte, dass sie auf den Mauern von Doerchgaard stand, in jenem Moment, in dem Terras Avatar fiel, und lachte.

Ich weiß es nicht. Ich sah sie nicht mehr nach ihrer Rückkehr ins Lager der Naldar, als die Kette zerstört war.

Ich war oft im Lager der Naldar auf diesem Feldzug. Stolz und unbeugsam, wie sie sind, hatten sie es vorgezogen, nicht im Lager der Luft zu lagern, wo man im Sommer zuvor ihren Ersten Krieger getötet hatte. Dennoch lehnten sie die Zusammenarbeit mit den Siedlern nicht von vorneherein ab.

Wie immer behandelten sie die Nyame und alle, die sie begleiteten, mit großer Freundlichkeit. So manchen Becher mit Wasser habe ich im Lager der Naldar geleert, und ein jeder war außerordentlich willkommen.

Auch waren mir die Gespräche mit einem von ihnen, einem Krieger, der uns lange Zeit begleitete und die Nyame zu schützen half, eine große Stütze. Beschämt muss ich gestehen, dass ich seinen Namen vergaß - wieder einmal. Ich habe nie mehr als vielleicht 50 Personen gekannt, bevor ich meine Heimat verließ, und dies rächt sich jetzt. Ich habe große Schwierigkeiten, mir die Namen derer zu merken, mit denen ich zu tun habe. Ich vergesse selten ein Gesicht, aber mein Kopf weigert sich einfach, die Namen zu behalten. Frauennamen scheine ich mir auch besser merken zu können als die von Männern. Vermutlich heißt das, dass ich gar so alt doch noch nicht bin.

Bei den Naldar hielt sich oft S'Ley auf. Die Tochter von Archon und Nyame des Südens und Angetraute von Klais Windbringer, einem der Großen unter den Naldar, war im hohen Maße schwanger. Als Mitglied jener seltsamen Rasse der Edalphi vollzieht sich ihr Leben in kürzeren Zyklen als das unsere. Dies gilt wohl auch für ihre Schwangerschaft.

Eine der Questen der verfemten Banner war es, jene S'Ley zu töten. So zumindest sagte man mir. Und Terra hatte mir gesagt, dass die einzige Möglichkeit, sie zu retten, war, die Questen zu lösen. Als ich S'Ley das erste mal traf in diesem Sommer im Lager der Naldar, hatten einige Siedler dies schon versucht. Sie waren aufgeflogen, und S'Ley selbst, so sagte man mir, habe sie mit dem Schwert gerichtet. Vielleicht war es ihre Schwangerschaft, die ihr Wesen veränderte. Zuvor war sie mir immer sehr sanft und verständig vorgekommen. Eine wahrhaft liebenswerte Person, die in Steinbrück sehr freundlich zu mir gewesen ist.

Irgendwie im Laufe dieser Tage wurden Eliondhar befreit aus einem äonenlangen Gefängnis, vielleicht auch nur einer. Aus alter Zeit bestand das Bündnis zwischen Edalphi und Eliondhar. Letztere, Wesen ohne eigene Körper, teilten sich den eines Edalphi zum beiderseitigen Nutzen.

Dieser Eliondhar jedenfalls wählte S'Leys Körper als Wohnstatt. Und fortan war es seltsam, mal mit ihr, mal mit diesem anderen Wesen zu sprechen, das in ihr wohnte und keinen eigenen Namen zu haben schien.

S'Ley kam nieder auf diesem Feldzug und schenkte einem gesunden Kind das Leben. Ich habe es gesehen. Ich stand vor ihr, keinen Schritt von ihr entfernt, meinen Dolch in Griffreichweite. Und für einen kurzen, schrecklichen Moment war ich versucht, sie zu töten. Nicht für die Verfemten, nicht aus Groll oder Hass, sondern um Terra zu retten. So groß war meine Verzweiflung, dass ich für einen Moment darüber nach dachte, eine Frau zu töten, die gerade Mutter geworden war, eine Frau, die stets freundlich zu mir gewesen ist. Eine Frau, die mit einem Mann verbunden ist, den ich schätze und bewundere.

Für einen Moment verwandelte ich mich in etwas, vor dem mir graute und heute noch graut. Für ein paar Herzschläge war ich ein Mörder, bereit, ein unschuldiges Leben zu nehmen, um meine eigenen Ziele zu schützen. Aber ich konnte es nicht tun. Ich sah mich selbst und mich ekelte vor dem, was ich sah. Schnell wandte ich mich ab, denn ich wollte nicht, dass sie in meinen Augen die Wahrheit erkennen konnte. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so geschämt.

Und noch heute schrecke ich aus so manchem Traum hoch, in dem die Klinge meines Dolches ihren makellosen Hals auftrennt und ihr Blut in rotem und vollen Schwall auf mich und das Neugeborene in ihrem Arm spritzt. Das schlimmste an diesen Träumen ist nicht das Töten. Das schlimmste, ist, im Traum in mein eigenes, zufrieden lächelndes Gesicht zu blicken.

Dies sind sehr persönliche Dinge. Warum ich sie hier aufschreibe, weiß ich nicht genau. Ein Teil des Grundes ist wohl, Buße zu tun dafür, dass ich mich habe verführen lassen von den Verfemten, dass ich ihnen beinahe anheim gefallen wäre. Ein anderer Teil ist, Euch zu warnen. Die Verfemten nutzen unsere eigenen Ängste, unsere eigene Verzweiflung aus, um ihr Werk zu tun.

Ich mag und kann hier nicht weiter schreiben. Es gibt noch Einiges zu berichten, aber das muss warten. _

Wieder ist zu viel Zeit vergangen. Meine Aufgaben, die mir vor einem Jahr noch wie ein großes Abenteuer erschienen, die ich mit Sorge, aber auch mit Stolz und Hingabe anging, erscheinen mir immer mehr wie eine Bürde, die zu schwer für mich ist.

Siobhán, meine Nyame und unter den Lebenden wohl die, die den größten Platz in meinem Herzen einnimmt, nur ihre Schwester und Faryanne lösen ähnliche Gefühle in mir aus, zieht sich immer mehr zurück. Es ist fast, als wäre sie gar nicht hier.

Ich weiß, dass ich ihr Unrecht tue, wenn ich mir Trost und Hoffnung von ihr wünsche. Ich bin kein kleines Kind, das in den Arm genommen und geherzt werden muss, weil es sich die Knie aufgeschlagen hat. Sie selbst leidet, vielleicht mehr als ich. Macht sich die gleichen Vorwürfe. Hat die gleichen Tränen in ihren Augen. Ist kraftlos, antriebslos, verzweifelt.

Meine eigene Verzweiflung macht hingegen langsam einer Wut Platz, deren Intensität mich beängstigt.

Wie weit sind wir gesunken seit jenen Tagen im Süden, wo wir das Lager der Naldar verteidigten.

Stets war ich beeindruckt von den Naldar. Stets fühlte ich mich hingezogen zu diesem starken, stolzen, aber auch freundlichen und milden Volk. Als wir wieder einmal in ihrem Lager waren, in Sichtweite eines der Tore, die Aeris gehört hatten, brach Schwarzes Eis aus diesem Tor. Es griff ohne zu zaudern das Lager der Naldar an.

Siobhán hieß mich, bei der Verteidigung zu helfen. Ich tat, was ich konnte - und das war erschreckend wenig. Einer aus ihren Reihen zerbrach meinen Schild mit einem großen Hammer. Ich focht, ich versuchte, zusammen mit den Kriegern der Naldar, mit denen, die bei uns waren und denen, die zur Hilfe eilten, die Verfemten wieder aus dem Lager zu zwingen. Die Nyame, Malakin und einige andere suchten Schutz im Schrein Aeris. Ich wurde zurück gedrängt, Schritt um Schritt. Hämmer prasselten auf mich hernieder, Klingen schnitten mein Fleisch. Schließlich versagten mir die Beine den Dienst und ich fiel, erst zu Boden und dann in eine tiefe Dunkelheit.

Es war die Stimme Faryannes die mich ins Leben zurück rief. Wundervolle, starke, zweifelnde Faryanne. Vieles müsste noch gesagt werden über sie, und ich werde es tun, wenn ich die Zeit finde. Hier jedoch will ich nur berichten, dass sie mich heilte. Ich fühlte, wie meine geborstenen Knochen sich zusammen fügten, wie zerschnittene Muskeln heilten, wie Haut sich neu bildete.

Viel Zeit konnte nicht vergangen sein. Noch immer war das Lager der Naldar voller Rakhs und anderer Ränge des Eises. Siobhan und die, die bei ihr waren, flohen. Und Faryanne war zurück geblieben, um mich zu retten.

Ich eilte mich, so sehr ich konnte - was bedeutet, dass ich fürchterlich langsam war. Doch als ich das Lager verließ, sah ich voraus Siobhán und Malakin kurz vor dem Lager Aeris'. Sie war sicher. Und ich, der ich ihnen hinterher humpelte, gelangte ebenfalls unbehelligt an die Tore.

Warum war Siobhán geflohen? Wie ich hinterher erfuhr, hielten sie und Malakin die Verfemten in Schach, doch war es nur eine Frage der Zeit, bis ihre Barrieren aufgebrochen würden. Der Tempel Aeris' im Lager der Naldar drohte in die Hand des Feindes zu fallen, und mit ihm die Seelen der Naldar, die in den Tempel gefunden hatten, um dort von den Priesterinnen erneut ins Leben gerufen zu werden. Ritus Recorpora oder so ähnlich nennen sie es: Ein Naldar, der gegen die Verfemten fällt, kann zurück kehren.

Doch es war keine Priesterin anwesend, um sie zurück zu holen, und die Nyame des Westens hatte Angst, dass die Seelen der Naldar verloren sein könnten, wenn der Tempel in die Hände der Verfemten fiele. Also führte sie die Seelen davon, hin ins Lager der Luft, in dem sie einen anderen Schrein zu finden hoffte.

Es war so, und alsbald tauchten die Priesterinnen der Naldar auf. Ich konnte dem Ritus beiwohnen, mit dem sie ihre Krieger zurück ins Leben riefen, hielt sogar ein wenig Räucherwerk. Es war sehr beeindruckend. Ich habe den Wortlaut vergessen, doch sprachen die Priesterinnen von einem Versprechen Aeris' an ihre Kinder. Sie alle kehrten zurück. Aus der Asche formten sich Körper, die die Augen aufschlugen und wieder lebten. Noch heute macht mir die Erinnerung eine Gänsehaut.

Ich weiß nicht, ob die Naldar Siobhán ihre Rettung verdankten. Ich weiß jedoch, was diese Rettung bei Siobhán bewirkte.

Sie sprach mit Faryanne, und Faryanne erzählte mir später, was sich zutrug.

Doch davon will ich in meinem nächsten Eintrag berichten. _

Siobhán. Siobhán NíCharthaigh, Nyame des Westens, Herrin über das Land, das meine neue Heimat ist. Auch meine Herrin, vor der ich das Knie beugte, der ich meine Freiheit zu Füßen legte und die zu schützen ich geschworen habe.

Wie sehr habe ich versagt in Steinbrück, als ein … Ding, ein Wesen der Leere kam und ihr die Krone raubte.

Heute glaube ich, dass sie die Krone brauchten, um das Siegel zu erschaffen. Dass sie die Krone brauchten, um Lisas Krone zu erschaffen.

Doch das sind nur Vermutungen. Vielleicht war der Sinn dieses Angriffes auch nur, Siobhán zu schwächen. Schon zuvor hat die Leere sie angegriffen, direkt, in meinem Beisein, oder auch indirekt, durch Siedler, die sie unter ihren Bann gebracht hatte. Nie habe ich ihr helfen können, wenn ich denn da war.

Und geschwächt hat der Verlust ihrer Krone die Herrin des Westens. Nicht direkt, nicht körperlich. Aber doch fühlbar und einschneidend.

Ich habe die Gelegenheit gehabt, die Person hinter dem Titel der Nyame kennen lernen zu dürfen: Siobhán die Keltin, die junge, lebenslustige Frau, die früher niemals viel Macht in Händen gehalten hat. Eine Alchemistin ist sie gewesen, so hat sie mir erzählt. Mit der Krone hat sich ihr ganzes Leben verändert. Als sie Nyame wurde, hat sie Einiges verloren und Vieles gewonnen. Davon hier zu berichten steht mir nicht zu, denn es sind ihre Erlebnisse und es ist ihr Verlust und ihr Gewinn. Dass sie diese Dinge mit mir teilte, macht mich froh und auch ein wenig stolz, selbst wenn dies hochmütig ist von mir.

Es war die Krone, die sie zur Nyame machte. Es war die Krone, die jedem Anderen davon kündete, welches Amt sie inne hat, dass sie eine der Hohen unter den Siedlern, dass sie eine Herrin des Landes und eine Erwählte der Elemente ist. Und diese Krone verlor sie in Steinbrück durch den frechen Raub jenes Wesens der Leere.

Was sie mit der Krone verlor, war das Zutrauen in sich selbst. Zuerst zweifelte sie, ob sie überhaupt noch eine Nyame wäre, wo ihr die Krone doch genommen wurde. Dann zweifelte sie an ihrer Verbindung zum Land, an ihrer Verbindung zu den Elementen. Und selbst als es in den Wochen nach Steinbrück schien, dass nichts von dem, was sie zuvor hatte, nun fehlte - abgesehen von der Krone - so hatte sie doch stets Zweifel, war sie doch stets wie in Erwartung eines fürchterlichen Hiebes, der ihr Alles nehmen würde. Sie sorge sich um ihr Land, um ihre Siedler, um ihre Freunde. Sie sorgte sich, weil sie nicht wusste, warum ihr die Krone genommen worden war und was die Verfemten damit anstellen mochten. Und all diese Sorge ließ sie schwinden, machte sie kleiner, raubte ihr den Mut, das Vertrauen in sich selbst.

Faryanne war diejenige, die sich am meisten bemühte, ihr die Sorge zu nehmen, die immer wieder versuchte, ihr etwas vor Augen zu führen, das ich jedoch nicht verstand. Mehr als einmal hatte ich das Gefühl, ihre Neches'Re wolle Siobhán etwas sagen, etwas Wichtiges, tat es dann jedoch nicht. Mehr als einmal wollte ich sie dazu befragen, aber immer gab es andere Dinge oder Faryanne bat mich, sie an diesem Punkt nicht weiter zu bedrängen. Mir wurde klar, dass sie ein Geheimnis bewahrte, und dass es Auflagen gab, die sie nicht brechen durfte oder wollte. Doch die Natur dieses Geheimnisses hätte ich nie erahnt.

Ich habe berichtet davon, wie Siobhan die Seelen der gefallenen Naldar aus dem Tempel im Lager der Naldar in einen Schrein von Aeris im Luftlager führte. Wie ich schon einmal geschrieben habe: Ich weiß nicht, ob es nötig war, ob die Naldar verloren gewesen wären oder von selbst den Weg gefunden hätten. Was ich jedoch weiß, ist, was diese Tat bei meiner Herrin bewirkte. Was sie getan hatte, erschien uns allen in diesem Moment wie eine Heldentat, wie etwas, was noch nie geschehen war, von dem man sich in Jahren noch erzählen würde. Und mit diesem Gefühl erreichte die Erkenntnis das Bewusstsein Siobháns, dass ihre geraubte Krone nicht die Quelle ihrer Macht war. Sie selbst ist die, die die Elemente erwählt haben. Ihre Macht kommt aus dieser Wahl, letztlich aus der Nyame selbst. Die Krone, was auch immer sie anfänglich bewirkt hatte, auf welche Weise sie Siobhán zur Nyame gemacht hatte,, war nach ihrer Krönung nicht viel mehr als ein Bild, eine Standarte, ein Wimpel.

Und dann musste sie diese Erkenntnis nur noch aussprechen. Als sie es tat, als sie es Faryanne gegenüber mitteilte, dass das Herz einer Nyame viel wichtiger war als die Krone, dass sie auch ohne Krone die gleiche Nyame war wie zuvor mit ihr, da geschah etwas wunderbares:

Ein Leuchten erfüllte plötzlich Faryanne, die Neches'Re des Westens, ein Leuchten, das langsam aus ihr heraus floss und sich in ihren Händen sammelte. Und dort wandelte sich das Licht und formte eine neue Krone. Faryanne war die neue Krone der Nyame gewesen, oder hatte diese zumindest in sich getragen, und hatte es nicht verraten dürfen.

Ich weiß nicht, ob Siobhán, ob Faryanne geweint haben. Ich gebe es offen zu: Ich habe es nicht sehen können, weil meine eigenen Augen voller Tränen waren. Ich weiß nicht, ob Faryanne Siobhán gekrönt hat oder ob sich die Nyame die Krone selbst aufgesetzt hat. Und es ist auch egal. Die Elemente haben Siobhán zur Nyame gemacht. Und seit dem ist sie es, und wird es bleiben, mit Krone oder ohne.

Ihre neue Krone ist nicht wie die alte. Sie wirkt … angriffslustiger ist das einzige Wort, das es zu beschreiben scheint. Ein wenig furchterregend vielleicht sogar. Es passt zu den Veränderungen, die meine Herrin durchlaufen hat. Sie selbst ist gefährlicher geworden, vermag durch die Lehren Malakins mehr zu tun, und sie hat durch die Erfahrungen, die dem Raub ihrer Krone folgten, an Größe gewonnen.

Beide Frauen, Faryanne und Siobhán, waren erschöpft und ausgelaugt nach dieser Erfahrung, aber auch glücklich. Es war ein unglaublich sonniger und heißer Tag, und gute Leute aus dem Luftlager versorgten uns mit Schatten, Trunk und ein wenig Speise, etwas, das wir alle dringend brauchten.

Faryanne hat außer dieser Episode nur wenig Gelegenheit gehabt, mit uns zu ziehen. Ihre Aufgaben haben sie von der Seite ihrer Nyame hinfort gezogen. Doch immer wieder trafen wir sie, und ich hatte stets das Gefühl, egal was sie gerade tat, dass Faryanne es - obschon müde und erschöpft - mit Hingabe und von ganzem Herzen tat. Und sie sprach nie davon, zu ruhen, sich zu schonen. Warum auch immer sie ihre eigenen Taten manchmal gering schätzt, ich bin froh um Faryanne, Neches'Re des Westens. Und ich bin sicher, Siobhán ist es auch.

Später waren die beiden Frauen in der Festung der Verfemten, doch da war ich nicht dabei, und für diese Erzählung ist es einerseits noch zu früh, andererseits jedoch bereits zu spät. In wenigen Stunden wird der Tag anbrechen, und ich werde nun versuchen, noch so viel Schlaf zu bekommen, wie mir möglich ist. _

Heute will ich von jenen berichten, mit denen ich in diese Lande kam. Ich zählte 40 Sommer zu diesem Zeitpunkt, und zähle nun 42. Ich kann kaum glauben, dass es nur einige Monde mehr als zwei Jahre sind, seit ich erstmals einen Fuß auf dieses Land setzte. Drei Feldzüge machte ich mit, suchte den Weg hinter Shang Men’ Ray zusammen mit dem Erdlager, war zwei mal im Süden, doch wie Mythodea in Besitz genommen wurde, wie Osten, Norden und Westen gefunden, die Siegel geöffnet wurden, wie Nyamen und Archons erhoben wurden von den Elementen, das weiß ich alles nur aus Erzählungen.

Noch in den Mittellanden traf ich einige reisende Abenteurer, Mitglieder eines Wanderbundes, den sie Die Zugvögel nannten. Sie waren auf dem Weg hierher, auf dem Marsch nach Mythodea, um erneut, wie in den Jahren zuvor, für Terra zu streiten. Um eine lange Geschichte abzukürzen: Sie erlaubten mir, sie zu begleiten. So jedenfalls habe ich es gesehen, auch wenn sie vielleicht sagen würden, dass sie mich einluden. Als ich mich ihnen anschloss, waren es nur zwei: Leif und Shakar, doch auf dem Weg zum Meer stießen weitere zu uns, in kleinen Grüppchen oder alleine: Mitglieder und Freunde der Zugvögel. Schließlich reiste ich mit mehr als zwei Dutzend Gefährten, von denen ich zuvor keinen gekannt hatte.

Sie sind ein seltsamer und großartiger Haufen. Gegenseitig begegnen sie sich oftmals mit gutmütigem Spott und Frotzeleien. Niemand unter ihnen beansprucht Führerschaft, auch wenn es mehrere gibt, deren Wort bei den anderen viel gilt. Furchtlos und tollkühn erschienen sie mir zunächst besonders, wenn es ums Feiern ging. Doch lernte ich sie in den Tagen bei Shang Men’ Ray alle besser kennen, lernte ihre Freundlichkeit und freimütig gewährte Freundschaft zu schätzen. Ich sah, mit welcher Wildheit sie sich gegenseitig verteidigten, füreinander sorgten, und ich sah auch, mit welcher Hingabe sie sich den Aufgaben widmeten, die Terra ihnen gegeben hatte oder die sie annahmen, um Terra zu dienen. Kurz: Ich lernte, sie alle zu bewundern, sie zu mögen und mich in ihrer Gesellschaft wohl zu fühlen. Ich mag eigentlich gar keinen von ihnen besonders herausstellen, sie alle waren wundervoll. Sie alle verließen Mythodea nach dem Feldzug im Sommer und luden mich ein, sie weiter zu begleiten, als Freund, wenn auch nicht als Mitglied. Denn Mitgliedschaft bei den Zugvögeln muss verdient werden.

Nun, ich konnte ihnen nicht folgen, konnte dieses Land nicht verlassen. Die Gründe dafür habe ich schon oft aufgeführt und muss sie hier nicht wiederholen. Doch ich freute mich auf das Wiedersehen im Sommer des nächsten Jahres.

Vieles gewann ich durch meine Entscheidung, unsere Nyame zu schützen. Einiges verlor ich auch. Das, was zu verlieren mir am bittersten war, war die Nähe zu den Zugvögeln. Meine Aufgaben nahmen mich zu sehr in Anspruch. Ich konnte nicht mit ihnen scherzen, war nicht da, wenn sie feierten und konnte ihnen bei ihren Aufgaben nicht beistehen. Dies war die eine Sache, die ich wahrhaft vermisste: mich als Freund der Zugvögel zu fühlen. Mein Zelt stand bei den ihren, doch mehr als ein schnelles Lächeln und ein paar erschöpfte Zusammenfassungen des jeweiligen Tages haben wir nicht gewechselt.

Ein paar von ihnen sah ich im darauffolgenden Frühjahr in Steinbrück, aber selbst hier war keine Zeit für mehr als ein paar hastig gewechselte Worte. Mir dämmerte, dass ich nicht gleichzeitig Freund der Zugvögel und Beschützer der Nyame sein konnte. Eines musste sich dem anderen beugen. Indem ich der Nyame dienen, diene ich dem Land und den Elementen, und es stand nie in Zweifel, dass dieser Dienst der wichtigere ist. Dennoch zog ich betrübt von Steinbrück aus. Nicht einen einzigen Becher hatte ich mit meinen Freunden leeren können.

In letzten Sommer beschloss ich, bei unserer Nyame zu lagern. Sie zu beschützen konnte nicht gelingen, wenn ich des Nachts in ein weit entferntes Zelt verschwand. Ich durfte einfach zu keinem Zeitpunkt weiter als einen beherzten Sprung von ihr entfernt sein. Die Zugvögel verstanden dies – oder sagten es zumindest so. Ich besuchte sie kurz, nachdem wir unsere Zelte aufgeschlagen hatten und sie noch dabei waren. Wahrhaftig Viele waren in diesem Sommer mit ihnen gekommen, und ihr Lager war größer denn je. Mit Wehmut betrachtete ich die große Feiertafel, die aufzubauen sie gerade Anstalten machten. Da luden sie mich ein und baten mich, die Nyame mitzubringen, die mir offenbar so viel bedeutet. Sie wollten ihr vorgestellt werden, und sie wollten sie kennen lernen.

Ich brauchte mehrere Tage, in denen ich mich wohl aufgeführt haben muss wie ein junger Welpe, bis sich Siobhán schließlich erbarmte und meinem Wunsch folgte.

An diesem Abend saßen die Mitglieder des Bundes und ihre engsten Freunde ein wenig Abseits vom lärmenden Treiben jener, die in ihrer Begleitung angereist waren, um ein Feuer herum. Ich brachte die Nyame und einige ihrer Begleiter zu diesem Feuer. Wenig später saßen wir alle im Kreis. Bevor mir jedoch gestattet wurde, die Anwesenden vorzustellen, erhob sich jener unter ihnen, der oftmals das Wort bei ihnen führt. Ich möchte hier keine Namen nennen, denn in ihrem Kampf für Terra haben sich die Zugvögel mächtige Feinde unter den Verfemten gemacht, und ich wage es nicht, Wissen über sie in die Welt zu streuen.

An jenem Abend nahmen sie mich in ihre Reihen auf, gaben mir den Wimpel, der als Zeichen der Mitgliedschaft in ihrem Bund dient. Ich hätte nie damit gerechnet. Ich war beinahe zu überrascht, um etwas zu sagen. Ich war überglücklich, aber ich machte mir auch Sorgen, ob ich der weiteren Verpflichtung, die ich damit einging, gerecht werden konnte. Und dennoch: Es war ein wundervolles Gefühl, dort im Kreis zu sitzen und ihre Freundschaft zu spüren. Ich sah die Freude Siobháns für mich in ihren Augen, doch da nicht alle die gleiche Freude verspürten, die uns begleiteten, möchte ich hierzu nicht mehr schreiben.

Warum schreibe ich dies auf, da dies doch eine Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse im Süden sein soll und eigentlich nur mich und die Zugvögel etwas angeht? Dies soll sogleich erklärt werden.

Terra, der Avatar der Erde, schätzte die Zugvögel, ich nehme an sowohl für ihren Einsatz, als auch für ihre Art, jeder Bedrohung ins Auge zu blicken und dennoch nicht Fröhlichkeit und die Fähigkeit zu feiern zu verlieren. Nicht selten kam sie spät abends an ihr Feuer und besprach sich, ließ es sich jedoch auch nicht nehmen, den einen oder anderen Trunk mit ihnen zu nehmen.

An jenem Abend war ich es, der sie an das Feuer der Zugvögel einlud, eine Tatsache, die sie zu erstaunen schien. Und als sie sich zu uns gesellte, da zog die gleiche Person, die mir meinen Wimpel verliehen hatte, einen weiteren aus dem Gewand und bat den Avatar, eine Ehrenmitgliedschaft bei den Zugvögeln zu akzeptieren, ohne Pflichten, wie er betonte, nur mit Rechten. Der Avatar ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Erst als Terra schließlich akzeptierte – und dies mit Freude im Blick – merkte ich, dass ich meinen Atem angehalten hatte. Wir blieben noch eine Weile am Feuer der Zugvögel. Diese eine Stunde war rückblickend betrachtet der eine glückliche Moment, den ich im Süden erlebte. Doch auch er endete. Die Pflicht drängt uns, und wir zogen ins Feuerlager.

Ich bin überzeugt davon, dass Terra, als sie unter das Siegel gezogen wurde, ihren Wimpel getragen hat, dass sie als Avatar der Erde, aber auch als Zugvogel ging. An jenem Abend am Feuer der Zugvögel wurde sie mir zur Bundschwester. Der Wimpel, den ich am Gürtel trage, ist der Zwilling dessen, den sie trug, verliehen am selben Abend, seit dem ich mich ihr mehr verbunden fühle als je zuvor. Zugvogel zu sein heißt, die anderen Mitglieder nicht im Stich zu lassen, gleich welche Gefahr für das eigene Leben droht. Das ist eine der wichtigsten Lektionen, die ich über den Bund gelernt habe. Vielleicht ist es das Ziel anderer Anhänger Terras, das Element zu befreien – oder ihm wieder die Möglichkeit zu geben, auf Mythodea wirken zu können. Dies ist sicherlich auch das Trachten der Zugvögel. Darüber hinaus wollen sie … wollen wir unsere Bundschwester zurück, den Avatar, die Terra, die mit unerschütterlicher Kraft stets unserer Armee vorangeschritten ist, die uns ein unvergleichliches Beispiel, die uns Mutter und zuletzt auch Schwester war.

Der Wimpel der Zugvögel zeigt einen kleinen silbernen Stern, der für einen gefallen Bruder steht, einen Schmied, der in den Reihen des Bundes kämpfte, und den untote Kreaturen zerfetzten. Der Avatar der Erde wird nicht der zweite Stern auf diesem Wimpel werden.

Nun, da ich diese Zeilen noch einmal gelesen habe, erscheinen sie mir denn doch etwas zu persönlicher Natur zu sein. Es tat gut, sie nieder geschrieben zu haben, doch werde ich sie, wenn überhaupt, dann nur mit Wenigen teilen. _

Untotes Fleisch hielt die Festung. Schwarzes Eis kämpfte Schulter an Schulter mit den Untoten. Ölige Pestilenz ging um und vergiftete Boden und Wasser. Die Viinshar waren überall. Und sie alle arbeiteten zusammen. Ich hatte immer angenommen, dass zumindest der seltsame Anspruch des Schwarzen Eises, die einzig mögliche Ausprägung der Perfektion zu sein, verhindern würde, dass sie mit anderen Kräften, und seien es auch Anhänger anderer verfemter Elemente, zusammen arbeiten. Doch offenbar hatte das Sterben des Sharun’Ar, seine Wiedererweckung durch die Knochenkönigin und seine Aufnahme der Essenz des Untods seine Macht über das Schwarze Eis nicht geschmälert oder gar gebrochen. Argus besitzt die Essenz aller vier freien Verfemten. Nur die Ratio fehlt ihm noch. Doch alle vier verfemten Elemente, die befreit wurden beim Öffnen der ersten vier Siegel, scheinen ihm zu folgen, arbeiten zusammen unter seinem Befehl und in seinem Sinne. Fast scheint es, als wäre er eine Art Über-Avatar dieser Vier.

Die ursprünglichen Fünf jedoch waren geschwächt. Aquas Avatar vernichtet, Aeris Avatar von der Leere verführt, Ignis Avatar seltsam verändert in seinem Verhalten, Magicas Avatar neu und im Hader mit dem eigenen Lager, Terras Avatar geschwächt und davon bedroht, unter dem Siegel Argus’ eingekerkert zu werden. In diesem Sommer waren wir, die gekommen waren, um für die Elemente zu streiten, von Anfang an in der schlechteren Position. Unsere Avatare waren geschwächt und in ihrer Macht beschnitten. Die Stärke unserer Armeen war sinnlos, denn die Banner schützten die Festung. Unsere Herzen waren verzweifelt. Doch dies reichte den Verfemten nicht. Sie nutzen ihre schlimmsten, ihre stärksten Waffen, um uns weiter zu schwächen: Täuschung und Lüge.

Ich weiß nicht mehr, wer mir das erste mal von Jemandem erzählte, der einen Traum gehabt hatte, der klar und eindringlich erschienen war. Alle nahmen an, dass es sich um Zeichen handelte, um Wahrträume, um etwas, das uns helfen sollte. Aber diese Annahme war falsch.

Ich weiß von keinem Traum, der sich bewahrheitet hat. Ich weiß, dass Tuachal, der die Krieger des Erdlagers anführte, träumte, dass ein großer Angriff auf uns bevor stand. Im frühen Morgen wappneten wir uns. Siobhán errichtete machtvolle mystische Barrieren. Krieger kamen zusammen. Die Aufregung wuchs – und ebbte wieder ab. Kein Angriff traf das Erdlager, aber die Krieger des Erdlagers waren effektiv gebunden, als kleinere Angriffe andere Lager trafen. Ich weiß, dass bei den Naldar eine Person träumte, dass Terras Axt, jenes besondere Artefakt, das im Sommer von Shang Men Ray unter Mithilfe meiner Gefährten gefertigt wurde, die Tore der Festung mit nur wenigen Schlägen zerstören könnte. Brawn hatte die Axt geführt, unrechtmäßig, wie ich denke. Dies ist der Hauptgrund für meine Ansicht, dass er als Führungsperson nicht taugt. In meinen Augen mangelt es ihm an moralischer Reife. In diesem Sommer jedoch kam die Axt zu dem, der sie verdient hatte, der dafür zu zahlen bereit war nicht mit weltlichem Tand, sondern mit seinem Leben. Terra erfuhr von dem Traum der Naldar-Priesterin. Zunächst sagte sie, die Axt würde gebraucht, um das Siegel zu zerstören. Dann aber, als ihre Sorge, die Festung könnte nicht erstürmt werden, immer größer wurde, führte sie die Axt, ihren Träger und uns ans Tor. Ich war dabei, ich sah, wie die Axt zwei Mal zum Tor wanderte. Ich sah, wie mindestens ein Dutzend Schläge am Tor nicht mehr hinterließen als eine kleine Delle. Mit zwanzig solchen Äxten hätten wir das Tor nicht aufbekommen. Ich sah, wie die Königin der Viinshar den Träger der Axt angriff. Ich versuchte zu helfen, doch Magie setzte mich außer Kraft.

Lüge und Trug. Die Waffen der Viinshar. Wir haben ihnen geglaubt. Weil wir glauben wollten. Ihre Lügen sprachen von Hoffnung. Wenn sie wahr waren, dann gab es noch jemanden, der uns wohl gesonnen war, der uns half. Wir haben darauf vertraut, dass eine weisere, größere, höhere Macht schützend ihre Hand über uns hält, uns Ratschläge und Warnungen zuflüstert. Wir wollten nicht alleine sein, nicht verantwortlich. Wir wollten ihnen glauben.

Hütet Euch vor Lösungen, die allzu golden schimmern. Denn dies ist die Art, wie die Viinshar ihre bitteren Lügen zu versüßen suchen. Die Dornen an diesen Blumen sieht man nicht, man spürt sie nur, wenn sie sich ins Fleisch bohren und ihr Gift verteilen. _

Lasst mich nun berichten von jenem letzten Tag, der so bitter endete für uns. Es wird schwer werden, dies alles nieder zu schreiben, denn vier Monde, die seit dem vergangen sind, vermochten es nicht, meinen Schmerz zu lindern, verwischten jedoch bereits meine Erinnerungen.

Der Morgen brachte gleich schlechte Neuigkeiten: Träume hatten vor einem gewaltigen Angriff auf das Lager Terras gewarnt, doch das Lager erwachte nur langsam und es schien nicht so, als würden genügend Krieger bereits gerüstet sein, um auch nur einen kleinen Angriff abzuwehren. Siobhán war außer sich. Sie wusste, dass Terra nicht mehr viel Zeit blieb, und sie wusste auch, dass der Avatar keinen Ort mehr hätte, an dem er wenigstens ein wenig Ruhe zu finden vermochte, wenn das Lager fiel. Gleich nach dem Erwachen stärkte sie Terras Avatar, so wie sie es jeden Morgen getan hatte. Sie war sehr blass danach, und schwach auf den Beinen. Terra zu stärken hatte ihr viel abverlangt. Dennoch sammelte sie vielerlei Dinge aus ihrem Zelt zusammen, als sie von der möglichen Bedrohung erfuhr, und begab sich mit mir als Wache vor das Lager. Dort verteilte sie die Utensilien, die sie geholt hatte, legte schimmernde Steine und andere Dinge aus und kniete dann nieder, um mit der Kraft, die ihr verblieben war, eine Barriere zu errichten, genauer mehrere Barrieren in schlauer Anordnung, die das Lager schützen sollten, ohne ein Verlassen oder Betreten unmöglich zu machen. Ein junger Magier aus dem Lager half ihr, einige Krieger kamen hinzu und halfen wiederum mir dabei, die Nyame zu schützen.

Die ganze Zeit drangen Geräusche zu uns herüber, Schlachtenlärm, der davon kündete, dass andere Lager angegriffen wurden. Einige Krieger eilten zur Hilfe, als ein Angriff auf das Lager des Großen Heeres gemeldet wurde, aber wir übrigen waren unschlüssig. Die anderen Angriffe mochten eine Ablenkung sein, der große Angriff auf uns mochte noch immer bevor stehen. Er kam nie. Wie ich schon an anderer Stelle berichtete, spielten die Verfemten mit uns, sandten uns Lügen in unsere Träume. So banden sie an diesem Morgen die Kampfkraft des Erdlagers und die Macht der Nyame. Zu einem Moment, in dem noch immer viele Banner vor der Festung errungen werden mussten, banden uns die Lügen des Feindes so wirkungsvoll, wie es seine Armeen getan hätten. Es dauerte lange, bis wir dies zu ahnen begannen.

Irgendwann jedoch beschlossen wir, dass wir nicht länger ausharren wollten. Siobhán und ich kehrten zurück zu unseren Zelten. Nach einem kurzen Frühstück zogen wir wieder aus, Richtung Tor. Wie ich es häufig tue, schritt ich an der Spitze unserer kleinen Gruppe. Als einer der Kell Goron auf uns zu kam, stoppte ich, in der Vermutung, er hätte mit der Nyame Dinge zu klären. Stattdessen kam er auf mich zu, musterte mich eingehend und fragte dann: „Siedler, nimmst Du Teil am Großen Spiel?“ Ich antwortete, dass ich im Großen Spiel nur eine kleine Rolle spiele. Ich weiß nicht, was er tat. Er umrundete mich, gestikulierte. Dann forderte er mich auf, zu der Festung zu gehen und mich um die schwarzen Banner zu bemühen, die dort noch immer standen. Er verkündete, dass mich dort kein Angriff treffen würde, keine Klinge mich verletzen, da ich unter dem Schutz der Kell Goron stünde. Ohne ein weiteres Wort ging er weiter, ließ mich, wie vor den Kopf gestoßen zurück. Was sollte ich tun? Gespräche an diesem Morgen hatten ergeben, dass sich sehr wohl Siedler aus dem Erdlager und anderen Lagern bemühten, die Aufgaben der Banner zu lösen. Da diese jedoch direkt im Innern des ersten Verteidigungswall der Festung standen, der zwar gefallen war, jedoch noch immer umkämpft wurde, wagten sich nur Wenige dorthin. Ein Mann von den römischen Siedlern im Westen, der Senator Congerius, und Ferun, eine balindurische Siedlerin im Süden, hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Bemühungen der Leute aus dem Erdlager abzustimmen. Sie kannten noch immer nicht einmal alle Aufgaben. Wenn die Worte des Kell Goron nicht gelogen waren, war dies eine große Chance, in Ruhe und Sicherheit die Texte der Bannerquesten aufzuschreiben. Ich schreibe zwar noch immer recht langsam, aber wenn dieser Schutz tatsächlich bestand, mochte es ein Hoffnungsschimmer sein. Auf der anderen Seite hatte die Nyame angedeutet, vielleicht einen gewagten Plan in die Tat umsetzen zu wollen, dessen Verlauf sie in die Festung führen würde. Ich wollte sie gewiss nicht alleine dorthin ziehen lassen, wo ich Verrat und Tod vermutete.

Siobhan entschied für mich, schickte mich fort von ihrer Seite. Ich verstand die Gründe. Als ich ihr nachblickte, wie sie das Lager verließ, war mir plötzlich sehr kalt, und Angst krallte sich in mein Herz und meine Eingeweide. Unsere Wege trennten sich, und mit einem Mal fühlte ich mich schrecklich allein.

Ich selbst kehrte zu meinem Zelt zurück. Auch wenn der Kell Goron mir Schutz versprochen hatte, so wollte ich mich nicht auf das Wort eines derartigen Wesens verlassen. Siobhán hat mich mit großzügig mit all den Dingen versorgt, die ich brauche. Dazu gehört auch die Ausrüstung eines Mitglieds der Hausgarde, zu der ein Kettenhemd zählt. Wenn ich mit ihr unterwegs bin, ist dieses zu schwer, zu sperrig, zu unbequem. Aber der Schutz, den es versprach, kam mir gerade recht an diesem Morgen. Also legte ich meine Lederrüstung ab und das eiserne Hemd an, und ohne wirklichen Anlass gürtete ich meine lederne Rüstung noch darüber. Dann schulterte ich den Schild, rückte meine Waffen am Gürtel zurecht und machte mich auf den Weg in Richtung Festung.

Irgend etwas muss in meinem Blick gewesen sein, denn ich kam nicht weit. Man sprach mich an, fragte nach meinem Wohin und dem Verbleib Siobháns. Als ich sagte, was ich zu tun mich gerade anschickte, nahm mich eine Elfenmagierin an die Seite, deren Namen ich hier nicht nennen möchte. Ich kannte sie eigentlich gar nicht, kannte nur Personen recht gut, die sie kannten. Dennoch kümmerte sie sich um mich, hüllte mich in schützende Zauber, versuchte, mich mit Worten zu ermutigen und tat meinen Dank ab.

Endlich, bis zum Äußersten gerüstet und beschützt durch hilfreiche Magie, war ich bereit, mich auf das dünne Eis zu wagen, das das Versprechen des Kell Goron für mich darstellte. Ich machte mich auf den Weg. Und fühlte mich seltsam allein, verlassen, verletzlich. So gewöhnt war ich an die ständige Gegenwart der Nyame, dass ich erst in diesem Moment zu der Erkenntnis kam, dass ich üblicherweise nicht nur ihren Schutz zu gewährleisten versuche, sondern mich auch auf ihren Schutz, ihren Rat, ihr Wissen verlasse.

Nichts davon stand mir zur Verfügung, als ich allein auf die Festung zu marschierte. Ich war erleichtert zu sehen, dass dort noch andere Siedler waren, wartende Krieger zumeist, die vielleicht in der Hoffnung auf eine Heldentat oder ein Scharmützel hergekommen waren. Ganz alleine die Festung des Feindes herauszufordern erschien mir doch zu wagemutig, und die Anwesenheit von anderen Siedlern war seltsam tröstlich. Es war nicht schwer, die Überreste der äußeren Verteidigung zu überwinden. Dann stand ich in jenem Todesstreifen zwischen der äußeren und der inneren Wehranlage, innerhalb der Schussweite der Bogenschützen des Untoten Fleisches. Einer von den Kell Goron, ich kannte ihn nicht, kam zu mir und fragte mich mit barschen Worten, was ich wolle. Ich berichtete von dem anderen seiner Art, der mir Schutz zugesagt hatte und wurde darauf hingewiesen, dass ich nur solange auf diesen Schutz vertrauen dürfe, wie ich mich wirklich mit den Bannern beschäftigte. Er warf einen bedeutungsvollen Blick auf eine Abteilung untoter Soldaten, die sich gerade zwischen den Wällen sammelten, wohl um der kleinen Gruppe von Kriegern vor dem äußeren Wall zu begegnen, aus deren Reihen Schmähungen und Beleidigungen zu hören waren. Eilig begann ich, die Aufgabe des Banners abzuschreiben, das am weitesten von den unheimlichen, beängstigend wirkenden Kriegern der Knochenkönigin entfernt stand. _

Ich wurde fortgerufen, bevor ich diese Episode zu Ende schreiben konnte. Ein fürchterlicher Tumult hatte sich in der Stadt erhoben, und leider war ich gezwungen, drastische Maßnahmen zu ergreifen. Ich fürchte, mir damit so einiges Wohlwollen verspielt zu haben, doch wenn das so ist, so lässt es sich nicht ändern.

Ich war dabei, zu beschreiben, wie ich die Aufgaben von den Bannern kopierte, an jenem Morgen, zwischen den Wällen der Feste Dunkelwacht. All zu weit kam ich jedoch nicht damit. Schon beim vierten oder fünften Banner war das Gefecht zwischen den Anhängern der Knochenkönigin und den Kriegern der Siedler genau auf die Linie der Banner gewandert. Ich glaube, eine Zeitlang stand ich sogar innerhalb der Schlachtreihe der Untoten, mit dem Rücken zu ihren Angreifern, und schrieb. Ich muss mich unbedingt bemühen, zu lernen, schneller zu schreiben. Jedenfalls kam sogleich der Kell Goron zu mir. Mit höhnischem Tonfall wies er mich darauf hin, dass mich der Zauber oder was immer es war der Kell Goron zwar vor Angriffen schützte, die gegen mich gerichtet wären, dass aber ein fehlgeleiteter Pfeil oder Axtstreich mich durchaus verletzten würden. Ich war kurz davor, ihm zu sagen, dass ich auf den Schutz dieses Zaubers ohnehin nicht vertraute, dann jedoch wurde ich der Nähe der Untoten gewahr. Ein Schaudern überkam mich, und plötzlich konnte ich an diesem Ort nicht mehr verweilen. Ich floh, kehrte zurück ins Lager Terras. Siobhán war nicht dort, also berichtete ich dem Senator Congerius von der zehnten Legion, was ich an den Bannern erfahren hatte. Er hatte sich zur Verfügung gestellt, um die Bemühungen des Lagers um die Banner ab zu stimmen. Der Senator empfing mich freundlich, ja geradezu begeistert. Er gehört zu den Siedlern des Westens, und ich vermute, dass er unsere Nyame in hohem Ansehen hält und ein wenig davon in diesem Moment auf mich abfärbte. Ich sprach auch mit Ferun, die sich um die magischen Bemühungen des Lagers kümmerte. Sie und der Senator arbeiteten eng zusammen. Ich erklärte beiden, was meine Ideen bezüglich der Questen waren, auf welche Weise man Siobháns Vorschlag folgend den Buchstaben jeder Aufgabe befolgen konnte, ohne wirklich schlimme Dinge tun zu müssen. Danach beschloss ich – weil ich nichts Besseres zu tun wusste und offenbar niemand sonst es bisher getan hatte – zu den Bannern zurück zu kehren, um die restlichen Aufgaben zu notieren.

Dort hatten sich jedoch die Kämpfe verstärkt, und an eine derartige Aufgabe war nicht zu denken.

Ich besuchte den Ort, an den die Banner gebracht wurden, deren Aufgaben gelöst worden waren – und erschrak fürchterlich. Die Banner vor der Festung Dunkelwacht waren schwarz. Die Banner hier, in einer Art Schrein in der Nähe des Lagers der Neutralen und Söldner, waren grau. Und dies drückte aus, dass sie weder den Verfemten, noch uns gehörten. Jedes einzelne Banner musste durch eine weitere Aufgabe gereinigt und in ein weißes Banner verwandelt werden. Die Aufgaben der grauen Banner waren nicht so verkommen und boshaft wie die der schwarzen, aber es waren jeweils viele Personen nötig, um sie zu erfüllen, und fast alle klangen langwierig, und bei vielen galt es, die richtigen Personen dafür zu finden. Ein wahrer Wald von Bannern stand dort. Es sah so aus, als hätten die meisten Siedler – so wie ich auch – nicht begriffen, dass es galt, die Banner zwei Mal zu erringen. Und da die Erstürmung der Festung und das Lösen der Bannerquesten viele Personen forderten, fürchtete ich um unsere Möglichkeiten, eines von beidem noch zu bewerkstelligen. Ich kehrte zurück ins Lager und berichtete davon. Im Lager machte man sich jedoch gerade dazu bereit, in einer verzweifelten Anstrengung alle Kräfte gegen das Tor von Dunkelwacht zu werfen. Auch erfuhr ich, dass Siobhán in die Festung gegangen und wohl ihre Neches’Re mitgenommen hatte. So weilten zwei Frauen, um deren Sicherheit und Wohlergehen ich mich sorgte, in der Festung, während mehrere Lager sich breit machten, eine Entscheidung zu erzwingen. In diesem Moment wusste ich nicht, was ich tun sollte. Verzweiflung ergriff mich, denn ich ahnte, dass wir scheitern mussten. Gefährten von den Zugvögeln kamen in dem Moment auf mich zu. Terra hatte ihnen gesagt, dass sie die Axt am Tor einsetzen wollte, jene Axt, die der Prinz des Südens geführt hatte und die nun zu ihrem rechtmäßigen Besitzer, meinem Freund Thane von den Zugvögeln, zurück gekehrt war. Terra hatte den Zugvögeln die Aufgabe übertragen, Thane zu schützen und im rechten Moment auf ihren Befehl hin zum Tor zu bringen.

Ich zweifelte die Weisheit dieses Plans nicht an. Er kam von Terra, und er bedeutete, dass es noch eine Möglichkeit gab, dass noch nicht alles verloren war. Also blieb ich mit dem Rest der Zugvögel und ihren Verbündeten vom Carroburger Heer bei der Axt, während die Kämpfe begannen. Lange Zeit warteten wir, während die Krieger unseres und anderer Lager den Weg zum Tor säuberten. Wenn sich ein Verband der Verfemten in unsere Richtung bewegte, dann wichen wir aus, ließen uns nicht in Kämpfe verwickeln. Wir warteten auf unseren Marschbefehl, Thane mit der Axt und wohl zwei Dutzend Bewacher, ein jeder so stark gerüstet, wie er konnte. Dann rief Terra, und wir schossen nach vorn, zu ihr, die uns sofort zum Tor weiter führte. Ich war direkt hinter ihr. Die Mauern von Dunkelwacht waren schwarz vor Verteidigern, die Pfeile auf uns abschossen und Armbrustbolzen. Als wir nahe genug heran waren, ließen sie Steine auf uns herabregnen, unter deren Wucht Schilde reihenweise brachen. Ich wappnete mich, denn in meiner Vorstellung würde die Axt das Tor zerschmettern, und ich würde zu denen gehören, die als erste die Feste betraten, die die volle Wucht des Zorns der Verteidiger zu spüren bekommen würden. Neben mir, halb unter dem Schutz meines Schildes, hieb Thane mit der Axt gegen das Tor. Ein gewaltiges Krachen ertönte, ein fürchterlich lautes Geräusch, doch das Tor hielt. Noch ein Schlag, dann noch einer. Dann wurde der Regen aus Steinen zu viel. Der Ruf zum Rückzug erklang. Humpelnd und blutend zogen wir uns zurück. Thane und ich selbst schienen die einzigen zu sein, die keine ernsthaften Schäden davon getragen hatten.

Für einen Moment verschnauften wir außerhalb der Steinwurfreichweite der Untoten. Unser erstes Anrennen hatte uns gut zwanzig gute Schilde gekostet, und wer ohne Schild in diesem Sturm aus fallenden Steinen gestanden hatte, der war nicht in der Lage, die Axt noch einmal auf ihrem Weg zum Tor zu schützen. Neue Schildträger wurden gesammelt. Ich selbst, dessen Schild den Ansturm wunderbarerweise überstanden hatte, hielt mich in der Nähe der Axt. Als Terra noch einmal den Angriff aufs Tor befahl, war ich wieder links neben Thane, Hielt ich wieder den Schild über ihn. Dieses Mal verließ mich mein Glück. Zeitgleich mit dem ersten Treffer der Axt prallte ein großer Fels auf meinen Schild und machte ihn unbrauchbar, brach mir fast den Arm dabei. Ich konnte kaum mehr tun, als die nutzlosen Reste von meinem Arm zu schnallen und übersah dabei, was sich um mich herum tat. Aus dem Augenwinkel nur sah ich etwas weißes, und als ich mich halb umwandte, da sah ich, dass Aniesha Fey, Herrin der Töchter der Leere, Thane im Zweikampf bedrängte. Ohne nachzudenken ließ ich meine eigene Klinge herumwirbeln, und ich traf! Ich traf die Herrin der Viinshar. Mein Schwert vermochte es, sie zu verletzen, und der Treffer schien sogar Wirkung zu zeigen. Dann traf etwas mich, geworfen wohl von den Mauern der Festung, und binnen eines einzigen Atemzugs verwandelte sich mein Körper in Stein. Ich kann nicht beschreiben, was das für ein Gefühl war, denn ich erinnere mich nicht daran. Ich weiß noch, dass ich den Treffer fühlte, weiß, dass mein Körper einzufrieren schien, sich weigerte, sich zu bewegen. Im nächsten Moment, oder in dem Moment, der für mich der nächste war, hatte sie die gesamte Szenerie verändert: Thane war weg, Aniesha Fey war weg. Die Angreifer hatten sich ein gutes Stück vom Tor zurück gezogen, brachten jetzt ein oder zwei Belagerungsgeräte in Stellung. Ich stand alleine gut zwei Schritt vor dem noch immer verschlossenen Tor von Dunkelwacht. Als ich begriff, dass ich immer noch innerhalb ihrer Reichweite für Steine war – und das einzige Ziel innerhalb dieser Reichweite – wirbelte ich herum und rannte, rannte so schnell ich konnte, weg vom Tor, weg von der Festung.

Ich fand Thane, fand die Zugvögel. Die Axt war fort. Ihr Einsatz am Tor hatte nicht mehr als eine tiefe Delle hinterlassen. Thane war von Aniesha Fey niedergeschlagen worden. Gerüchten zufolge hatte Tuachal einen Arm verloren, aber Terra hatte ihm diesen aus Dankbarkeit für seine Treue und Hingabe zurück geschenkt. Oder war das zu einem anderen Zeitpunkt gewesen? Die Schlacht tobte, für Stunden, wie es schien. Das Tor der Festung wurde wieder und wieder von Geschossen aus Belagerungsgeräten getroffen, hielt jedoch stand. Rammböcke kamen zum Einsatz. Der Rammbock des Erdlagers jedoch wurde von den Viinshar verdorben, bevor er zum Einsatz gebracht werden konnte. Erschreckend ist die Geschwindigkeit, mit dem die Töchter der Leere verderben konnten, was die fähigsten Magiewirker im Lager mit Hilfe ihres Avatars in stundenlanger Arbeit vorbereitet und verzaubert hatten. In diesem Moment erschien es uns allen so ungerecht. All die Mühen, all unsere Hoffnungen, alles vergebens.

Ich selbst warf mich in die Schlacht mit dem Mut der Verzweiflung. Ich hieb um mich wie toll, aber ich denke, ich bekam mehr Treffer ab, als ich austeilte, und nur meine Rüstung und die schützende Magie jener Elbe retteten mich. Alsbald jedoch hing meine Rüstung in Fetzen und blutete mein Körper aus mehreren Wunden. Ich konnte nicht weiter machen. Also zog ich mich hinter das Schlachtfeld zurück, ließ mich schwer auf den Boden fallen und ließ meine Wunden versorgen. Ich hatte einen Trank zur Heilung, den ich einnahm. Dann starrte ich für unbestimmte Zeit auf den Boden vor mir, gelähmt von Entsetzen und Verzweiflung. Meine Hoffnungen waren zerschlagen. Die Banner konnten nicht gewonnen werden, die Axt hatte das Tor nicht zerstört. Wir hatten keine Möglichkeit, an das Siegel heran zu kommen, das Terra bannen würde.

Während ich dort saß, entfaltete der Trank seine Wirkung. Meine Wunden schlossen sich. Ich muss gestehen, dass ich nicht mehr weiß, wer mir die Nachricht überbrachte, dass Siobhán im Lager Terras von Argus bedroht wurde. Ich weiß auch nicht mehr, wie ich zum Lager zurück kam, weiß nur noch, dass ich plötzlich dort war und einer Szene ansichtig wurde, die mich fast dazu brachte, mein Leben einfach fort zu werfen.

Siobhán war tatsächlich dort, vielleicht frei Dutzend Siedler waren bei ihr, und standen Argus und einem halben Dutzend seiner Schergen, seinen mächtigsten, gegenüber. Argus hatte meine geliebte Nyame am Hals gepackt und knurrte sie an. In dem Moment, in dem ich drauf und dran war, einfach zu versuchen, Argus aus vollem Lauf mit der Wucht meines Körpers umzuwerfen, griffen ein paar beherzte Seelen, unter ihnen Allasdair MacManner, des Argus Schergen an. Eine Frau mit schwarzen Flügeln war unter ihnen und einer, den ich für Gerchon, den Nekromanten, hielt. Keiner von ihnen schien die Schläge der Siedler zu spüren. Einer von ihnen entflammte seine Gleve und hieb mit einem einzigen Schlag beinahe Allasdairs Bein ab. Und Argus höhnte, dass niemand seinen Kindern Schaden zuzufügen vermochte, solange er dabei war. Doch zumindest ließ er Siobhán los. Ich eilte zu ihr, und hastig raunte sie mir zu, dass es ihr gelungen war, Lisa, die Schwester Fileas Strongbows, der zum Argus wurde, aus der Festung zu entführen. Lisa Strongbow, die die Nyame von Argus’ Siegel war, war irgendwo im Erdlager versteckt, und Argus wütete und tobte, um sie zurück zu bekommen. Erneut schöpfte ich Hoffnung. Meine wunderbare Freundin Siobhán hatte uns eine weitere Möglichkeit verschafft, die Pläne des Argus zu durchkreuzen. Doch Lisa musste fortgeschafft werden, und das hieß, dass wir uns Zeit erkaufen mussten. Siobhán versuchte, es zu tun, doch das konnte ich nicht zulassen. Es gelang mir, mich vor sie zu schieben. Argus packte mich und warf mich nieder, und plötzlich toste ein Schmerz durch meinen Körper, ein Schmerz, wie ich ihn nie gefühlt hatte. Meine Haut schien zu verbrennen, meine Augäpfel fühlten sich an, als würden sie schmelzen. Jede Faser meines Körpers schien zu zerreißen. Wo ist Lisa? fragte mich Argus mit drohender Stimme. Hätte ich es gewusst, ich hätte es ihm gesagt, hätte ihm alles gesagt, nur damit dieser Schmerz aufhörte. Doch ich wusste nichts, den Elementen sei Dank. Ich wusste nichts, und ich schrie es heraus, dass ich nichts wusste, dass ich sagen würde, wenn ich etwas wusste, und Argus ließ ab von mir. Der Schmerz verschwand. Und ich blieb zitternd und in Panik zurück. Torge war plötzlich da. Er wusste, wo Lisa war, aber Argus war mit anderen Opfern beschäftigt. Wieder warf sich Siobhán in die Bresche, versuchte, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. In diesem Moment konnte ich es gar nicht richtig würdigen, doch unsere Nyame ist mutig, mutiger als ich es wäre an ihrer Stelle. Ungerüstet und winzig stand sie vor Argus, der selbst mich noch um bestimmt Haupteslänge überragt, und forderte ihn heraus, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich.

Plötzlich war da ein Elb. Ich kannte ihn, zumindest hatte ich ihn schon gesehen: Sir Wismerhill von den Schattenstürmern, einer der Führer des Lagers von Aeris. Er suchte Lisa, wollte sie fortbringen, verstecken. Ich selbst konnte nicht mit ihm gehen. Siobhán war hier und brauchte mich vielleicht. Doch ich schickte ihn mit Torge, damit dieser ihn führen mochte. Wenig später zog Argus ab. Ich weiß nicht, ob er es aufgegeben hatte, Lisas Aufenthaltsort aus den Siedlern herauszupressen, oder ob er fühlen konnte, dass Wismerhill sie fort führte. Später erfuhr ich, dass er den fliehenden Trupp eingeholt und sich Lisa zurückgeholt hatte.

Siobhán war wütend, enttäuscht, verzweifelt, als sie dies hörte. Noch immer tobte die Schlacht an der Festung, versuchten die Streiter der Elemente, mit schierer Zahl und Willenskraft in die Festung zu gelangen. Siobhán wollte dorthin, wollte sehen, ob sie noch etwas tun könnte. Also marschierten wir zurück in die Schlacht. Bheal war bei uns, und auch wieder Torge, glaube ich. Tiara Lea und ihre Leibwache standen dort, und Siobhán steuerte auf sie zu. Während die beiden Nyamen sich beratschlagten, reihte ich mich in den Kordon ihrer Wachen ein. In ihrem Bedürfnis, zu helfen und Wissen zu erlangen war die Nyame des Ostens dicht an die Schlacht heran gerückt, und mir war nicht wohl, als ich sah, wie dicht der Feind stand. Dann ging alles sehr schnell. Unsere Front brach an der Stelle, wo wir standen, plötzlich weg. Eine Abteilung Untote rückte auf. Ich sah ein halbes Dutzend Bogenschützen gerade, als sie auf Tiara Lea und Siobhán anlegten, durch eine Lücke in unserem Schutzwall aus Leibern, der sie umgab. Was hätte ich tun sollen? Collin hatte mir immer wieder eingeschärft, dass die Herrin des Westens kein Krieger war, dass sie nicht in der Lage war, schweren Verletzungen zu widerstehen. Dass sie sterben würde, wenn sie ernsthaft verletzt würde. Als die Bogenschützen ihre Pfeile von den Sehnen schnellen ließen, trat ich in deren Flugbahn. Es war keine überlegte Handlung, es war einfach etwas, was ich tat. Mein Körper war der einzige Schild, den ich noch zwischen die Pfeile und Siobhán bringen konnte. Ich spürte eine Art Schlag, und als ich an mir herunter blickte, ragten vier Pfeilschäfte aus meiner Brust, denen meine zerfetzte Rüstung keinen Widerstand hatte bieten können. In diesem Moment überkam mich eine tiefe Ruhe, eine seltsame Zufriedenheit. Die Welt wurde dunkel um mich, und mein Körper fiel. Ich starb, doch ich war bereit dazu. Terra würde vergehen, und ich wollte nicht in einer Welt ohne Terra leben. Und mein Tod würde einen Sinn haben. Mein Opfer rettete meine Nyame, und vielleicht die des Ostens auch noch. Vage wurde ich mir bewusst, dass Hände mich ergriffen, dass mein Körper über den Boden geschleift wurde. Das Gefühl verließ ihn langsam, und dennoch verspürte ich vier Mal den beißenden Schmerz, mit dem eine Pfeilspitze aus meinem Körper gerissen wurde. Mein Kopf lag weich und warm gebettet, und wie aus der Ferne hörte ich Stimmen, aufgeregte erst, dann eine voller Kraft, die mich fest hielt und daran hinderte, den Weg weiter zu schreiten, den ich begonnen hatte. Dann kam der Schmerz. Ein brennender Schmerz war es, der mich zurück riss in meinen Körper und ins Leben. Es war Bheals Zauber, der mich heilte. Ich weiß, ich muss ihm dankbar sein, doch in jenem Moment war ich es nicht. Ich war bereit gewesen zu gehen, diese Welt zu verlassen, doch sie ließen es nicht zu. Als ich mich schließlich mühsam aufrappelte, musste ich gestützt werden. Ich war schwach wie ein Neugeborenes. Die Nyamen waren nirgendwo zu sehen. Zitternd taumelte ich in Richtung der Schlacht, mit dem Wunsch, endlich getötet zu werden, endlich Erlösung zu finden. Ich war nicht bei Sinnen. Es waren Tiara Leas Wachen vom Orden der Elemente, die mir den Weg versperrten, die mich fort schoben, die mir diesen Ausweg verwehrten. Ich hatte keine Kraft. Auf einer unbewussten Ebene fühlte ich, dass es zu spät war, dass Terras Einkerkerung unaufhaltsam war und gerade jetzt seinen Abschluss nahm. Es fühlte sich an, als wäre ich tatsächlich gestorben. Mein Geist setzte aus. Ich weiß nicht, wie ich dort hin kam, doch das nächste, woran ich mich erinnere, war, dass mich Allasdair MacManner schüttelte, Fragen an mich richtete. Ich lag, zusammengerollt wie ein waidwundes Tier, vor dem Eingang meines Zeltes im Lager Terras.

Das Lied, Terras Lied, das in mir gesungen hatte seit ich meine Knie gebeugt hatte vor ihrem Avatar zwei Sommer zuvor, war verstummt. Terra war fort. _

Terra war fort. Ihr Lied verstummt. Und es war, als halte die Welt den Atem an.

Ich war nicht dabei, als sie ging, doch man erzählte es mir. Erzählte mir, dass sich die Tore Dunkelwachts öffneten, die wir nicht brechen konnten, und sie hinein gezogen wurde.

Ich war nicht dabei, als sie ging. So wie ich nicht dabei gewesen war, als der Kantor ging. Die Viinshar, so heißt es, haben ihn geholt. Es fällt mir nicht schwer, dies zu glauben. Der Kantor war ein Mann von heißem Blut. Ich wusste, dass ihn die Schönheit der Töchter lockte, ebenso wie die Gefahr. Und er war jemand, der tief im Innern den Ruhm suchte, glaube ich. All seine schlimmen Selbstbestrafungen, all seine seltsamen Ausbrüche waren vielleicht ein Mittel, aus dem engen Kleid auszubrechen, was ihm die Rolle als Geistlicher in seinem Orden auferlegte.

Obwohl er alles andere als ein einfacher Mensch war, war es doch leicht, ihn zu mögen, und er mochte die Menschen. Der Kantor war vielschichtig. Er war ein glühender Verehrer seines Glaubens, ein wortgewandter Redner, ein scharfzüngiger Beobachter und wohlwollender Berater. Er war ein wahrer Hort des Wissens. Er war großspurig und bußfertig in einem. Er war ein Mann, den ich bewundert habe.

Wie er gefallen ist, weiß ich nicht genau. Die Viinshar sollen ihn verführt haben, sollen ihn mitgenommen haben zu einem Angriff auf das Wasserlager. Die Töchter selbst konnten die Siedler nicht verletzen. Ihn schon. Und so fiel er durch die Klingen der Siedler. Jener Siedler, für deren Wohlergehen er gestritten hat.

Der Kantor wird mir ewig im Gedächtnis bleiben. Ein schwieriger Mann, ein Mann, den ganz verstanden zu haben ich nicht behaupten darf. Wann immer ich jedoch einen Achenar sehe, wann immer ich einen Becher mit Met an die Lippen setze, werde ich mich an den Kantor erinnern. Wann immer ich eine Viinshar sehe, werde ich mich an den Kantor erinnern. Und ich werde nicht vergessen. Irgendwann finde ich einen Weg, ihnen ihre Schreie zurück in ihre Hälse zu stopfen.

Des Kantors Trauerfeier war seiner würdig. Ernst und getragen am Anfang, aber dann - unterstützt vom Met aus seiner eigenen Fertigung - auch voller Frieden. Diese Feier hat geholfen, die Trauer ein wenig zu überwinden, hat abgeschlossen mit etwas, das abgeschlossen werden musste.

Es ist gut, dass Malakin unsere Nyame zwang, sich ihrer Trauer zu stellen. Ich rechne ihm dieses hoch an, denn sie hatte schon so viel Leid und Kummer zu ertragen auf diesem Feldzug.

Der Kantor ist tot. Terra jedoch lebt. Unter diesem Siegel in der Festung ist nichts eingeschlossen oder weg gesperrt. Dieses Siegel verhindert, dass mein Element auf diese Welt zugreifen kann, ja. Doch ist es in seinen eigenen Sphären, nicht gefangen unter Argus' Siegel. Und Terras Avatar, Terras wundervoller Avatar, ist auch nicht unter dem Siegel eingesperrt. Während ich weinte und vor Gram zu zerbrechen suchte, haben weisere und kühlere Köpfe als meiner die Essenz des Avatars davor bewahrt, unter das Siegel gesogen zu werden. Der Preis, den sie zahlten, war hoch. Doch unbezahlbar ist die Hoffnung, die sie uns damit gaben. Wir können, wir werden den Avatar, den ich liebe, zu neuem Leben erwecken. Wir werden einen Weg finden, das Siegel zu zerstören. Ein Weg ist gewiesen. Ihr alle habt es gelesen oder gehört. Im Sommer suchen wir den Schlüssel für Argus' Siegel.

Und wehe allen, die uns daran hindern wollen!

(Dieser Text ist eine Abschrift aus der ursprünglichen Wanderbibliothek der Ouai)